Unlängst versammelte sich an einem Abend eine Anzahl Musikfreunde, um sich an den Werken eines der größten modernen Komponisten zu erfreuen. Der Redner des Abends, der wegen seiner langen und intimen Bekanntschaft mit dem Künstler mit Autorität über dessen Genie zu sprechen vermochte, sagte, er müsse sich dagegen verwahren, daß man diesen Musiker unter die amerikanischen Komponisten zähle, denn er gehöre der Welt an. Nachdem die Anwesenden den sanften Melodien gelauscht hatten, welche die Sinne mit Bildern von murmelnden Bächen und tanzenden Sonnenstrahlen geradezu überfluteten, mit dem Reiz flüchtiger Erscheinungen von Wald, Feld und Garten, einer wahren überfülle von Farbe, Wärme und Gefühl, mußten sie zugestehen, daß das Genie dieses Komponisten Anspruch auf die Huldigung der ganzen Welt habe.
Nur wenige Abende später wurde vor einer andern Zuhörerschaft in Boston ein Ausspruch getan, der lebhaft an den eben erwähnten erinnert. Die „Töchter New Hampshires” hatten sich zu ihrem jährlichen Festabend versammelt, und, um ihren Heimatsstaat zu ehren, hatten sie dessen gegenwärtigen Gouverneur, Samuel D. Felker, eingeladen.
Gouverneur Felker sprach im besonderen von den berühmten Frauen, die New Hampshire mit Stolz zu ihren Töchtern zählt. Er sagte, kein Staat könne sich rühmen, Frauen von höherer Intelligenz, edlerer Weiblichkeit und reicherem Genie zu besitzen. Wie Daniel Webster der erste Mann New Hampshires sei, so sei Mary Baker Eddy, die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, die erste unter den Frauen des Granitstaates. „Wir finden Spuren ihres Wirkens”, sagte er, „nicht nur in Neu England, sondern in der ganzen Welt, und wir sind stolz auf sie.”
Mrs. Eddy selbst machte keinen Anspruch auf Weltgröße; doch muß ein jeder, der von Vorurteil frei ist, die Wahrheit von Gouverneur Felkers Behauptung anerkennen. Wie der große Komponist durch seine Werke berechtigt war, den größten Musikern der Welt zugezählt zu werden, so ist das, was Mrs. Eddy zum Wohl der Menschheit getan hat, das beredteste Zeugnis für ihre Größe als ein Wohltäter der Welt, und dies wird in allen kommenden Zeiten anerkannt werden.
Wahrlich, auf Mrs. Eddy findet das Wort des Weisen aus alter Zeit Anwendung: „Ein Weib, das den Herrn fürchtet, soll man loben. Sie wird gerühmt werden von den Früchten ihrer Hände, und ihre Werke werden sie loben in den Toren.” Durch ihre Entdeckung der Christlichen Wissenschaft im Jahre 1866, welche, wie Mrs. Eddy uns in ihrer Selbstbiographie („Retrospection and Introspection“, S. 47) erzählt, der Gipfelpunkt jahrelangen eifrigen Forschens nach „einer Erkenntnis Gottes als der einen großen und immergegenwärtigen Erlösung von menschlichem Elend” war, legte sie unbewußt den Grund zu ihrer all-überragenden Größe. Heute kann man sowohl unter der englischsprechenden Bevölkerung wie auch in manchen andern Ländern nicht weit gehen, ohne daß man die Christliche Wissenschaft erwähnen hört.
Es ist höchst interessant zu hören, mit welcher Ungezwungenheit die Anhänger dieser neu-alten Religion über dieselbe sprechen. Sie ist so sehr ein Teil ihres täglichen Lebens geworden, ist mit all ihren Beziehungen zu ihren Mitmenschen so eng verknüpft, kurz, ihre Praktische Anwendung ist eine so allgemeine, daß sie in vollkommen natürlicher Weise zum Gegenstand der Unterhaltung wird.
Wer selbst einmal geheilt worden ist, oder wer es erlebt hat, wie ein lieber Angehöriger oder Freund durch die Christliche Wissenschaft seine Gesundheit wiedererlangt hat und ein nützliches Glied der Gesellschaft geworden ist, der wird sehr wahrscheinlich seinem Dank hörbaren Ausdruck geben. Er wäre nicht mehr menschlich, wenn er die Gedanken eines hoffnungslos Leidenden, eines Mitmenschen, der unter der Last des Kummers und der Angst darniedersinkt, nicht in freundschaftlicher Weise auf die Tatsache hinweisen würde, daß heute genau wie vor alters
Des Heilands ungenäht Gewand
Dem Kranken wird zuteil,
In Drang und Not rührt er ihn an,
Und siehe! er ist heil.
Was war es denn, was Mrs. Eddys Lebenslauf von dem Hunderter ihrer Zeitgenossinnen unterschied, die von den Hügeln New Hampshires kamen? Die Umgebung ihrer Jugendzeit war in vieler Hinsicht dieselbe, wie die andrer Mädchen ihrer Zeit, Mädchen, die zu guten und nützlichen Frauen heranwuchsen, die aber nur eine vorübergehende Bewegung im Strome des Lebens hervorriefen. Wer mit dem Landleben und seinen Verhältnissen vertraut ist, kann sich leicht die Umgebung vorstellen, in der Mrs. Eddy den ersten Teil ihres wunderbaren Lebens verbrachte. Ihre Eltern, Mark und Abigail (Ambrose) Baker, gehörten zur zweiten Generation der Pioniere jenes Teils von New Hampshire, und das Städtchen Bow, in dem sie am 16. Juli 1821 geboren wurde, ist typisch für jene kleinen Landstädte, mit denen Neu England übersät ist.
Im ersten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts war das Leben auf einer Farm den Tagen der Pionierzeit noch zu wenig entrückt, um außer dem täglichen Arbeitsgang, wie ihn das Auferziehen einer großen Familie mit sich bringt, viel zu bieten; doch war das Beste, was die Stadt in gesellschaftlicher, erzieherischer und religiöser Hinsicht zu bieten hatte, Mark Bakers Meinung nach nie zu gut für seine Kinder. Mary, die jüngste von sechs Kindern, von zarter Gesundheit und sensitiverem Temperament als die Geschwister, wurde diesen vorgezogen; auch war sie empfänglicher für die streng religiöse Atmosphäre, die im elterlichen Hause herrschte, als die andern.
In der Vielgeschäftigkeit des Hauses, in welchem diese zarte, kleine Blume heranwuchs, ward sie der besonderen Obhut ihrer Großmutter Baker anvertraut, die von den schottischen Covenantern abstammte und mit all dem religiösen Eifer erfüllt war, den eine solche Herkommenschaft mit sich bringt. Die Geschichten, denen das empfängliche Kind zu den Füßen ihrer Großmutter lauschte, die tägliche Unterweisung, die sie von ihrer geistig gesinnten Mutter empfing, die Erörterungen, denen sie aufmerksam zuhörte, wenn Männer des öffentlichen Lebens mit ihrem streng kalvinistischen Vater die Tagesfragen besprachen, all diese Dinge waren gestaltende Einflüsse, die sie für das große Werk vorbereiteten, zu dem sie in späteren Jahren berufen werden sollte.
Mary erwies sich gar bald als ein frühreifes Kind, und noch sind viele kleine Anekdoten im Umlauf, die beweisen, wie ihre Bestimmung, wenn auch noch unerkannt, schon über ihrer Kindheit schwebte und diese beeinflußte. Oftmals setzte sie ihre Familie und die vielen Besucher des Heimwesens durch kluge Bemerkungen in Erstaunen, Bemerkungen, die weit über ihr Alter hinausgingen und die, wie man annahm, die Folge eines übermäßig entwickelten Gehirns waren, was manches bedeutungsvolle Kopfschütteln sowie die trübe Prophezeiung veranlaßte: „Sie wird nicht alt werden.”
Viel Gewicht ist immer auf ein Erlebnis gelegt worden, über das Mrs. Eddy in ihrem Buch „Retrospection and Introspection“ berichtet, einem Buch, in welchem sie die von ihr als wichtig erachteten Tatsachen ihres Lebens mitteilt. Sie war etwa acht Jahre alt (ein Alter, in dem ein Kind gewöhnlich nicht gerade übereilig dem Ruf der Mutter folgt), als sie wiederholt dreimal beim Namen gerufen wurde, und zwar von einer Stimme, die sie für die ihrer Mutter hielt. Obwohl die Mutter sie versicherte, daß sie sie nicht gerufen habe, bestand das Kind doch darauf, es habe sie gewiß jemand gerufen. Ungefähr ein Jahr lang wiederholte sich von Zeit zu Zeit dieser unerklärliche Ruf, doch schrieb man ihn einer übergroßen Einbildungskraft zu, bis eines Tages auch eine Cousine Marys, die mit ihr im selben Zimmer war, die geheimnisvolle Stimme hörte und dann das Kind schalt, weil es dem Ruf seiner Mutter nicht folgte. Die bestürzten Eltern konnten nun nicht länger zweifeln, und da sie um die Gesundheit ihres Kindes besorgt waren, nahmen sie ihr die Bücher fort und sandten sie ins Freie, in die große Schule der Natur.
Von klein auf war Mary der besondere Liebling ihres Bruders Albert, der sich um diese Zeit zur Aufnahme im Dartmouth College vorbereitete. Die kleineren Kinder hatten es in den Landschulen jener Zeit nicht leicht, denn es bedurfte einer starken Hand, um die ungestümen Gemüter der größeren Knaben und Mädchen in Schranken zu halten. Es zeigte sich bald, daß das laute Schulzimmer nicht der Ort für die feinfühlige Natur der kleinen Mary war, und so wurde ihr gestattet, fernerhin ihren Unterricht zu Hause zu empfangen.
Mark Bakers Haus war mit der Literatur jener Zeit reich versorgt. Sodann wurden in demselben die Tagesfragen ungezwungen besprochen; auch lebte man der Hauptstadt nicht fern, so daß ein Mann von dem Ansehen Mark Bakers und seinem Einfluß in allen lokalen Angelegenheiten stets mit den hervorragenden Männern seiner Zeit Fühlung haben konnte. Mary bereicherte ihr Wissen an Büchern, die über ihr Alter weit hinaus waren. Ihre Einbildungskraft wurde frühzeitig durch die Heldengeschichten angeregt, welchen sie zu Füßen ihrer Großmutter lauschte. Hier eignete sie sich einen reichen Vorrat an geistiger Weisheit an und lernte Verse aller Art, die man ihrer Urgroßmutter zuschrieb. Es ist daher nicht zu verwundern, daß das Kind schon frühzeitig den Vorteil einer Geistesbildung zu würdigen lernte. Sie verehrte den gütigen großen Bruder innig, der ihr beim Lernen half und für dessen Aussichten auf eine höhere Bildung sie sich lebhaft interessierte.
Als dann das neunjährige Mädchen sich ihrer Bücher und ihrer Kameradschaft mit dem vielgeliebten Bruder beraubt sah, fühlte sie sich natürlich vereinsamt. In ihren Schriften, in denen sie von frühster Jugend an ihre innersten Gedanken und Gefühle zum Ausdruck brachte, offenbaren sich wieder und wieder ihre angeborene Liebe zur Natur und zum Leben im Freien, ihr tiefes Interesse für Vögel, Blumen und Bienen, wie überhaupt für die ganze Tierwelt auf dem Lande. Diese Freuden konnten sie jedoch nicht für den Verlust der Kameradschaft ihres Bruders entschädigen, denn daß diese beiden Geschwister geistesverwandt waren, sollten die kommenden Ereignisse über jeden Zweifel hinaus beweisen.
So kann man sich leicht die Freude vorstellen, mit der das kleine Mädchen der Heimkehr des Bruders am ersten Semesterschluß entgegensah. Da sie bei ihrem Umherwandern im Freien meist allein war, dachte sie viel über die Buchgelehrsamkeit nach, die ihrem Bruder solche wundervollen Möglichkeiten erschließen sollte, und im Tiefinnern ihrer kindlichen Seele reifte der Entschluß heran, auch zu studieren und Gedichte zu verfassen, wenn sie erst erwachsen sei, wie die fromme Hannah More, deren Verwandtschaft sich die Großmutter Baker rühmte. Als dann der Bruder nach Hause kam, säumte Mary nicht, ihm sogleich mitzuteilen, daß sie ein Buch schreiben wolle. Er war so beeindruckt von ihrer Ernsthaftigkeit und ihrer allgemein anerkannten Frühreife, daß er versprach, ihr bei diesem ihren, Streben beizustehen. Da wir nun wissen, auf welch herrliche Art dieses Streben sich verwirklicht hat, können wir ohne Zögern Marys Erklärung an den Bruder glauben, daß sie die „Nachtgedanken” von Young gelesen und verstanden habe.
Indem nun der junge Student sein erregbares Schwesterlein mit Liebkosungen beruhigte, machte er einen geheimen Pakt mit ihr. Der Bücherbann war nämlich aufgehoben worden. Somit versprach er ihr, daß, wenn sie während seiner Abwesenheit im zweiten Semester fleißig in der englischen und der lateinischen Grammatik studieren würde, die er ihr überlassen wollte, er sie in den Sommerferien lehren würde, Latein zu lesen.
Mit Jubel umarmte sie ihn, vor Erregung und Stolz erglühend. Kein Wunder, daß sie dem liebevollen Auge des Jünglings „schön, wie ein Engel” erschien, wie er zu seiner Mutter sagte. „Sie ist so sanft wie es nur ein Kind gibt, und hat solch freundliches Wesen”, war der Mutter liebevolle Antwort. Wer könnte ihr nicht die stolze Freude nachfühlen, welche ihr Herz bewegte, als sie diese beiden Blüten ihres Hauses betrachtete — den vielversprechenden Jüngling und das vor Glück strahlende Kind.
Wie gewissenhaft sie ihren Teil der Verpflichtung erfüllte, geht aus Mrs. Eddys eigner Aussage hervor, daß sie im zehnten Jahr mit Lindley Murrays Grammatik ebenso vertraut war wie mit dem Westminster’schen Katechismus, den sie jeden Sonntag aufsagen mußte. Nur wem es bekannt ist, wie genau die Kinder jener Zeit in diesen für die religiöse Erziehung so wesentlich erachteten Anfangsgründen bewandert waren, kann verstehen, was diese Erklärung bedeutet. Der Bruder nahm es ebenso gewissenhaft mit seinem Vertrag, und die Begabung seiner Schülerin mußte selbst den anspruchvollsten Lehrer befriedigen. Jede Ferienzeit wiederholte er mit ihr das Pensum, das sie während feiner Abwesenheit erledigt hatte, und ehe er wieder abreiste, plante er ihre Studien für das folgende Semester.
Man male es sich einmal aus, wie das noch im zarten Alter stehende Kind sich durch Naturkunde, Logik und Ethik hindurcharbeitete! Es waren dies ihre Lieblingsfächer, wie sie uns in „Retrospection and Introspection” (S. 10) sagt. Der Bruder unterrichtete sie auch im Ebräischen, Griechischen und Lateinischen. Es folgte somit in ganz natürlicher Weise, daß die fünfzehnjährige Mary nach dem Umzug der Familie nach Tilton eine Schülerin der Privatschule von Professor Dyer H. Sanborn wurde, wo Knaben auf das College vorbereitet wurden, daß sie mit Auszeichnung ihr Examen bestand, und daß man sie später als Hilfsleherin für das Seminar zu gewinnen suchte, in welchem ihr Professor als Lehrer angestellt worden war.
Man hat die Behauptung, daß Mrs. Eddy eine besonders gute Gelegenheit gehabt habe, sich eine Geistesbildung anzueignen, ins Lächerliche gezogen, und Mrs. Eddys Erklärung, daß sehr bald nach ihrer Entdeckung der Christlichen Wissenschaft ihre Bücherweisheit wie ein Traum entschwunden sei, ist verspottet worden. Die Buchstaben jenes Wissens mag sie verloren haben, aber die geistige Disziplin all der Jahre unablässigen Fleißes war von unberechenbarem Wert, als in der zweiten Hälfte ihres irdischen Lebens die Ereignisse sich immer mehr drängten und hohe Anforderungen an ihre Zeit stellten. Der geistige Gehalt jenes Wissens konnte gewiß nicht ganz verloren gehen. Einmal gewonnen, blieb er ein Teil ihrer inneren Ausrüstung, und man braucht nur die Erzeugnisse ihres gereisten Wissens zu lesen, um Seite für Seite einer Ausdrucksweise zu begegnen, die den Stempel der Gelehrsamkeit trägt.
Der religiöse Sinn, der im Baker’schen Hause herrschte, ist schon erwähnt worden. Er beeinflußte Mrs. Eddy in hohem Grade schon von Geburt an. Die erste bestimmte Unterweisung in der Religion erhielt sie von ihrer Großmutter. Diese erzählte der Kleinen die Geschichte von dem verrosteten schottischen Schwert, das ein fünfhundertjähriges Familienerbstück war, und setzte ihr auseinander, wie die Ureltern ihren Glaubensbund mit Blut besiegelt und dadurch bewiesen hätten, daß ihnen die Religion mehr war als das eigne Leben. Verwundert schaute das Kind ihre Großmutter an. „Was ist Religion?” fragte sie. Jedermann kennt die Neigung der Kinder, Fragen zu stellen, welche die Erwachsenen in Erstaunen versetzen und oft schwer zu beantworten sind. Doch Großmutter Baker hatte ihre Lektion in der Schule des Lebens gelernt und war mit der Antwort bereit: „Religion heißt, Gott kennen und anbeten.”
Wie einfach und bündig ist doch diese Antwort, und wie nahe reicht sie an jene wunderbare Erklärung heran, die achtzehnhundert Jahre zuvor aus dem Munde des großen Lehrers kam: „Das ist aber das ewige Leben, daß sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesum Christ, erkennen.” Dann kam das Erlebnis mit jener wunderbaren Stimme, die das Kind so beharrlich beim Namen rief. Nachdem auch ihre Cousine diesen Ruf gehört hatte, stand Mrs. Baker stark unter dem Eindruck, daß das Kind zu irgendeinem Zweck „von Gott berufen” sei, und sie gebot Mary, das nächste Mal, dem kleinen Samuel gleich, zu antworten: „Rede, Herr, denn dein Knecht höret.” Als die Stimme wieder rief, schwieg das Kind, da es ihr an Mut fehlte, doch antwortete sie das folgende Mal. Es wurde ihr jedoch keine Antwort, und die irdischen Sinne vernahmen die Stimme nie wieder.
Dem Vater, Mark Baker, der ein unnachgiebiger Religionsbekenner war, müssen diese Erlebnisse seines Kindes schwere Gedanken verursacht haben. Er hielt an der unbeugsamen Lehre der ersten Kalvinisten fest und war sicher in großer Sorge wegen Marys religiösen Ansichten. Der Kampf zwischen dem starken Willen dieser beiden Menschen erreichte seinen Höhepunkt, als Mary zwölf Jahre alt war. Sie weigerte sich entschieden, die herrschende Prädestinationslehre mit ihrer ewigen Strafe für die Nichterwählten anzunehmen. Sie liebte Gott, meinte aber, falls die Geschwister, die ihr so teuer waren, für die ewige Strafe ausersehen sein sollten, die, wie der Vater behauptete, die Ungläubigen erwartet, sie es mit den Geschwistern darauf ankommen lassen wolle.
Es war keine Kleinigkeit für ein Kind ihres Alters, sich der Entscheidung des Familienoberhauptes zu widersetzen, doch blieb sie all den Beweisgründen gegenüber, mit denen man sie überzeugen wollte, anscheinend unbewegt. Da faßte Mark Baker den unweisen Entschluß, den Willen des Kindes, der so fest war wie sein eigner, zu brechen. Widerstand er doch der Tochter nicht, die ihm wert und teuer war, sondern einzig den bösen Geistern, von denen sie seiner Meinung nach besessen war.
Es war dies Mary Bakers erstes Eintreten für das Prinzip; aber das feinfühlige Kind war dem Kampf nicht gewachsen, und sie welkte dahin wie eine zarte Blume unter eisigem Winde. Als sie fiebernd auf ihren, Bettchen lag, kannte des Vaters Angst keine Grenzen. Er glaubte, sie werde sterben, und wie wild jagte er zu Pferd nach der Stadt, um einen Arzt herbeizuholen. Mrs. Baker wandte in der Zwischenzeit die sanfteren Künste der Liebe an, und als der Arzt gekommen und wieder gegangen war, riet sie Mary, sich in gewohnter Weise im Gebet zu Gott zu wenden. In ihrer Selbstbiographie auf Seite 22 beschreibt Mrs. Eddy das Ergebnis. Sie sagt: „Ich betete, und ein sanfter Hauch unaussprechlicher Freude kam über mich. Das Fieber war verschwunden, und vollkommen gesund stand ich auf und kleidete mich an.”
Keines ihrer Geschwister hatte bis dahin ein religiöses Bekenntnis abgelegt; es herrschte aber sowohl auf Seiten der Familie als auch des Pastors der Wunsch, daß gerade dieses Lamm der Herde frühzeitig der Gemeinde einverleibt werde. Der besondere Anlaß dazu lag vielleicht in der so oft ausgesprochenen Voraussage, daß Mary „nicht lange auf dieser Welt” sein werde. Ihre Frühreife, ihr Vertrautsein mit der Bibel, ihre Gewohnheit, gemäß dem Beispiel ihres Lieblingshelden Daniel dreimal am Tage zu beten, all das hatte sie zu einer bemerkenswerten Persönlichkeit in der Gemeinde gemacht.
Sei dem wie ihm wolle, ihre ausgesprochenen Ansichten in bezug auf die Lehren ihrer Kirche scheinen sie nicht von der Zahl der Bewerber um Mitgliedschaft ausgeschlossen zu haben. Die üblichen Fragen wurden auch ihr vorgelegt und von ihr beantwortet. Als jedoch der Pastor mit der Frage in sie drang, ob und wie sie wisse, daß sie wiedergeboren sei, war ihre Prüfungsstunde gekommen, und alle Mitglieder horchten gespannt auf ihre Antwort.
Man muß wahrlich dieses junge Mädchen bewundern, das hier so furchtlos vor den Ältesten der Kirche stand — unter denen auch der Vater war —, und das seinen Bund hielt und seinen Glauben genau so tapfer verteidigte, wie einst die schottischen Vorfahren, die fünfhundert Jahre zuvor ihr Schwert dafür geschwungen hatten. Wir dürfen sicher sein, daß kein Zittern in der sanften Stimme zu hören war, die jetzt antwortete: „Ich kann nur in den Worten des Psalmisten sagen: ‚Erforsche mich, Gott, und erfahre mein Herz, prüfe mich und erfahre, wie ich es meine. Und siehe, ob ich auf bösem Weg bin, und leite mich auf ewigem Wege.‘ ”
Des Kindes Festhalten an seinem Glauben scheint einen tiefen Eindruck auf die Versammlung gemacht zu haben. Einige der älteren Gemeindemitglieder waren zu Tränen gerührt, und selbst der Pastor, der es für seine Pflicht gehalten hatte, Mary strengstens zu vermahnen, schien durch ihre Aufrichtigkeit zufriedengestellt zu sein. Die Wirkung dieser Erfahrung auf das Mädchen war jedoch derart, daß man es für geraten hielt, sie eine Zeitlang unter der Obhut ihres Bruders Samuel nach Boston zu schicken, wo dieser als Geschäftsmann lebte. Während dieses Besuchs schrieb sie das Gedicht „Der Landsitz” (Gedichtsammlung, S. 60), dessen letzte Strophe die Ernsthaftigkeit ihres Denkens zu jener Zeit bekundet:
O gib mir eine Stätte, darin die Liebe wohnt,
Und heilige Gemeinschaft mit Heimatszauber lohnt.
Da der Empfindung Blumen in stiller Schönheit stehn,
Und alle unsre Lieben sich tief beglücket sehn,
Doch ach, mir ahnen Wolken, sie düstern mir das Lied.
Das Leben ist ein Schatten und schnell von dannen flieht.
Durch den Umzug der Familie nach Tilton im Jahre 1836 konnte Mary Bakers intellektuelle Ausbildung sich erweitern und vertiefen. Nicht nur trat sie als Schülerin in die Akademie von Professor Dyer ein, sondern sie wurde auch Privatschülerin des Rev. Enoch Corser, Pastors der Congregationalisten-Kirche, von dem sie im Alter von siebzehn Jahren zum erstenmal das Abendmahl empfing. Er hatte erkannt, daß ihr eine verheißungsvolle Zukunft bevorstand, und sagte daher von ihr: „Ihr sollt sehen, sie hat eine große Zukunft. Sie ist ein intellektuelles und geistiges Genie.”
Die nächstfolgenden Jahre verliefen friedlich und glücklich. Die Familie hatte gute geschäftliche und gesellschaftliche Beziehungen, und die Töchter des Hauses wurden viel bewundert. Nach den Bildern von Mrs. Eddy aus späteren Jahren kann man sie sich leicht so vorstellen, wie sie von denen geschildert wird, die sie als Kind und Jungfrau gekannt haben. Sie war mittelgroß, schlank und graziös, hatte eine Fülle welligen, kastanienbraunen Haares, eine rosige Gesichtsfarbe und große blaue Augen, deren Farbe sich unter dem Einfluß von Gemütsbewegung vertiefte. Kein Wunder, daß die Schüler ihrer Sonntags-schulklasse sie verehrten und ihre graziöse Art und ihre zierliche, stets gut gekleidete Gestalt bewunderten.
In diesen glücklichen Mädchentagen Mary Bakers fing man an, sie als „die junge Dichterin” zu bezeichnen. Schon von früh an hatte sie ihrer Neigung, in der einen oder andern Form zu schreiben, freien Lauf gelassen und außer den Gedichten, die schon erwähnt wurden, erschienen nun in den lokalen Blättern verschiedene lyrische Sachen aus ihrer Feder. Als Mrs. Eddy 1910 sich entschloß, eine Sammlung ihrer Gedichte zu veröffentlichen, nahm sie darin auch einige dieser ihrer Leistungen der früheren Zeit mit auf. Sie wurden von Zeitungsausschnitten kopiert, die im Laufe der Jahre gelb und rissig geworden waren; die Gefühle aber, die sie zum Ausdruck brachten, waren noch genau so frisch und ursprünglich wie damals, als die liebliche Mädchenhand die Zeilen aufzeichnete. Zwei dieser Gedichte, „Tägliche Vorsätze” und „Herbst”, sind von religiösem Empfinden durchdrungen und lassen die Erwartung eines frühen Scheidens von dieser Erde erkennen, ein andres aber ist so lebensvoll in der Stimmung, daß es unter die besten Gedichte der ersten Zeit gezählt werden muß, auch ist es interessant im Hinblick auf Mrs. Eddys spätere poetische Schriften:
Aufwärts
Dem Adler hab' ich heut zugeschaut,
Wie hoch hinauf, wo der Himmel blaut,
So majestätisch der leichte Flug,
Dem Genius gleich, ihn zur Freiheit trug.
Gott, der auch über dem Nestling wacht,
Gibt seinen Schwingen die Richtung, die Macht;
Er fährt auf dem Sturmwind, ob Wetter ihm drohn,
Die Erde mag beben — der Fels ist sein Thron!
Es sei auch mein Flug dem des Adlers gleich,
Hinauf zu der himmlischen Winde Reich.
Gott ist mein Begleiter, drum fürcht ich mich nicht,
Er führt durch die Nacht mich empor zu dem Licht.
Ein andres Gedicht dieser früheren Zeit, „Der Alte vom Berge”, wurde viel kopiert, als es zuerst veröffentlicht wurde, und 1850 erschien es in einem populären Gedenkbuch, das unter dem Titel „Edelsteine für Dich” zuerst in Manchester und dann sechs Jahre später in Boston, Massachusetts, in den Verlag kam. Dieses Gedicht gehörte zu Mrs. Eddys besonderen Lieblingen, und sie selbst erkor es als einleitendes Gedicht für ihre Sammlung.
Mrs. Eddys Leben zerfällt naturgemäß in drei Perioden. Die erste Periode bis zu der Zeit ihrer Verheiratung mit Oberst George Washington Glover im Dezember 1843 ist am eingehendsten geschildert worden, weil der Einfluß dieser Jugendjahre ein unabsehbarer war. Der Weg, den sie ging, war lang und führte sie auf Umwegen zum Ziel. Wer aber diese Periode des Werdens ihres wunderbaren Lebenslaufs Schritt für Schritt verfolgt, wird klar erkennen, daß sie zu etwas Besonderem ausersehen war.
Wäre Mary Baker mit einer robusten Gesundheit ausgestattet gewesen, wie ihre Geschwister, so wäre ihr Leben vielleicht in friedlicheren Bahnen dahingeflossen, die Menschheit aber würde des größten Wohltäters der heutigen Zeit verlustig gegangen sein. Die lautere Religion der Covenanter und Puritaner, der Geist unverbrüchlicher Treue, den die Abkommenschaft von einer langen Reihe von Glaubensverteidigern mit sich bringt, umfaßt die Liebe zum Guten und Schönen, das Verlangen nach Weisheit, um Gott besser dienen zu können. Nur die Gottheit, die
... unsre Zwecke formt,
Wie wir sie auch entwerfen,
konnte die Entfaltung jener gewaltigen Kräfte bewirken, die in diesem schönen und sanften Geschöpf lagen — in dieser Jungfrau so zart und lieblich wie die wilden Rosen, die sie auf ihren Streifungen in Wald und Feld der Heimat pflückte.
Allem äußeren Anschein nach verließ Mary Baker den Schauplatz ihrer Kindheit mit dem geliebten Manne unter den glücklichsten Aussichten. Der Tod ihres Bruders Albert zwei Jahre zuvor war ihr erster großer Schmerz gewesen. Jedoch mit ihrer Übersiedelung nach Charleston, Süd Carolina, wo ihres Gatten Beruf lag, kam für sie die Zeit, da sie die tiefsten Tiefen des Schmerzes ergründen, des Lebens Wandelbarkeit erfahren und so furchtbar leiden sollte, wie nur eine empfindliche Natur, wie die ihre, leiden konnte. Diese Zeit gipfelte jedoch in einem Ereignis, dessen Folgen sie weiter ab von ihrer Familie und ihren Freunden führte als die Meilenzahl, die zwischen der neuen und der alten Heimat lag.
Hatte das junge Weib hiervon eine Vorahnung, als sie Hand in Hand mit ihrem ritterlichen Gatten von den Ihren Abschied nahm, ein neues Licht in ihren tiefblauen Augen, ein neues Glück auf ihrem blühenden Antlitz? Wie dem auch sei, das Glück war von kurzer Dauer. Nach sechs Monaten wurde Oberst Glover auf einer Geschäftsreise vom gelben Fieber befallen und starb daran nach kurzer Krankheit. Einen Monat darauf kehrte die schmerzgebeugte Witwe in die alte Heimat zurück, die sie so hoffnungsvoll verlassen hatte, um dort ihren Verlust zu beklagen, bis sich ihr durch die Geburt ihres Sohnes im September 1844 ein neuer Weg zur Betätigung ihrer Liebe auftat. Doch auch diese Freude war von kurzer Dauer, denn ihre Familie hielt sie für zu zart, um für das Kind Sorge zu tragen, und so hatte sie nur wenig von ihm in den ersten fünf Jahren. Mit dem Tod ihrer Mutter und der zweiten Heirat ihres Vaters im Jahre darauf kam dann der allerschwerste Schlag, nämlich die Trennung von ihrem Kinde, das in des Vaters Hause unwillkommen war sowie auch in dem ihrer Schwester Abigail, wo sie in den nächsten drei Jahren die meiste Zeit zubrachte.
Es war das Jahrzehnt, das dem Ausbruch des Bürgerkriegs vorausging. Von der Zeit ihrer Rückkehr an hatte Mrs. Glover geschriftstellert, wenn immer ihre Gesundheit es erlaubte, und Mark Baker muß von Stolz erfüllt gewesen sein, als er seiner Tochter politische Schriften im „New Hampshire Patriot“ las, wenn auch ihre Ansichten nicht immer mit den seinen zusammentrafen. Ihr Aufenthalt im Süden war nur kurz gewesen; was sie aber dort hinsichtlich der brennenden Frage jener Tage gesehen und gehört hatte, verlieh ihrer Feder das Feuer der Begeisterung, und mit Wärme und männlicher Kraft schrieb sie über diese und andre Gegenstände für die Zeitungen und Zeitschriften der damaligen Tage.
Ihr schwankender Gesundheitszustand und ihr unablässiges Sehnen, ihr Kind bei sich zu haben, waren die Hauptmotive, welche zu ihrer zweiten Heirat mit Dr. Daniel Patterson, einem Verwandten ihrer Stiefmutter, führten. Wenn Mrs. Eddy diese Ehe als eine unglückliche bezeichnet, so ist damit alles Wesentliche gesagt, ausgenommen, daß sie weder ihre Gesundheit noch ihren Sohn wiedergewann. Sie war viel allein, und ihre lebenslängliche Gewohnheit, in der Bibel zu forschen, gewährte ihr fast den einzigen Trost. Verschiedene Gedichte aus dieser Zeit geben ihrem Gefühl der Einsamkeit und des Kummers in rührender Weise Ausdruck. Im Jahre ihrer großen Entdeckung schrieb sie folgende Worte (Gedichtsammlung, S. 9):
So weine ich einsam: dahin ist der Traum,
Die Früchte, sie fielen, und kahl steht der Baum!
Aber auf die Tränen, die sie über den Verlust einer irdischen Liebe weinte, folgte die Dämmerung einer alles überragenden Herrlichkeit, die allmählich den Horizont mit rosiger Glut erleuchtete.
(Schluß folgt.)
[„Fairplay“ im „North Yakima (Wash.) Republic“]
Das erste, was ich von Mrs. Eddys Werken las, war das Kapitel vom „Gebet” in Wissenschaft und Gesundheit. Es enthält die vernünftigste und klarste Abhandlung über dieses Thema, die ich je gelesen habe, und ich möchte sie allen Wahrheitssuchern empfehlen. Auch meine ich, daß die christlich-wissenschaftliche Auffassung von Gott außerordentlich erhebend und belebend ist, indem sie die Grundlage liefert für einen vernünftigen Glauben und für die Verwirklichung der Verheißungen des Meisters. Die Christliche Wissenschaft bietet die geistige Nahrung, nach welcher die Massen innerhalb wie außerhalb der Kirche hungern.
Copyright, 1914, by The Christian Science Society
Verlagsrecht, 1914, von The Christian Science Publishing Society
