Wenn ein Kind zuerst eine Blume, einen Schmetterling oder irgend etwas Farbiges erblickt, so ist es, als bestehe die Schöpfung nur um seinetwillen. Es ergötzt sich an seinen kleinen Schätzen und zeigt sie mit einer Freude, die zu ihrem Wert in keinem Verhältnis steht. Der Mond erfüllt es mit Staunen, die Sterne erregen seine Neugier, über alles will es etwas wissen, und mit zunehmender Fassungskraft erhöht sich seine Begeisterung bei jedem neuen Eindruck. Mit den Jahren verlieren diese Eindrücke jedoch an Unmittelbarkeit, sein Interesse wird nur durch außergewöhnliche Gegenstände und Erfahrungen erweckt, und wenn es herangewachsen ist, bleibt es oftmals den Schönheiten der Natur gegenüber, die ihm einstmals zur Freude gereichten, ganz gleichgültig.
Warum wohl? Die Blume ist ebenso schön wie vormals, der Flügel des Insekts hat seinen Glanz nicht eingebüßt, der Vogelgesang klingt nicht weniger süß wie früher, und doch wird ihr Reiz nicht mehr empfunden. Beim Künstler werden diese frühen Eindrücke nicht nur erhalten, sondern noch beträchtlich gesteigert, und zwar deshalb, weil er, anstatt weniger in allen Dingen zu sehen, mehr in ihnen sieht. Der gereiste Maler sieht Farben, die ihm früher unbekannt waren, der Musiker hat die Fähigkeit, aus den Tönen, die der Vogelkehle entströmten, eine Symphonie zu entwickeln, während das Leuchten eines Sterns den Dichter zu einem Sonnett begeistert. Es offenbaren sich ihnen fortwährend die Wunder einer neuen Welt — jener wundervollen Welt, die bisweilen „das Reich der Phantasie” genannt wird. Offenbar bleibt der Wert dieser Gegenstände der Begeisterung unverändert, und die Unempfänglichkeit für dieselben ist nur auf ein ungenügendes Wachstum in uns selbst zurückzuführen. Durch Untätigkeit wird unsre Empfänglichkeit vermindert und unsre Fähigkeit, wirkliche Werte zu schätzen, abgestumpft, während unsre Begeisterung, jener Begleiter ewiger Jugend, zugleich mit unsrer falschen Vorstellung von Alter die Jugend einbüßt.
So mancher, der mit der Christlichen Wissenschaft in Berührung kommt, nimmt sie voller Begeisterung auf, und es drängt ihn, seine Freude mit jemand zu teilen. Indem er aber in der Wissenschaft Fortschritte macht, bewirken bisweilen seine eignen entmutigenden Erfahrungen und die von andern vorgebrachten Zweifel samt dem allgemeinen undurchdringlichen Materialismus der Menschheit, daß sein Glaube schwach wird, sein Erkenntnisvermögen sich trübt und sein Eifer abnimmt. Die Flügel der Begeisterung, die ihn so mächtig emporhoben, scheinen zu ermüden und zu versagen, und er fühlt sich zu Boden sinken. Muß das sein? Die Schönheit der Wahrheit ist nicht vermindert, warum sollte also seine Freude an ihr nachlassen? Sollte seine Freude nicht in dem Maße zunehmen, wie er die Kenntnis des Quells seiner Freude erlangt? Der Psalmist scheint eine unzerstörbare Freude empfunden zu haben. Wenn er auch bisweilen niedergeschlagen war, wie dies bei allen Sterblichen der Fall ist, die ihren Weg von der Materie zum Geist eingeschlagen haben, so scheint er sich doch immer schnell über diese Gefühle erhoben zu haben, und seinen Lobliedern nach zu urteilen hat er sich wegen seiner zeitweiligen Verzagtheit recht herzlich geschämt.
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