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Die Wirklichkeit des Guten

Aus der Mai 1915-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Als ich vor etlichen Jahren mit einer Bekannten die Hauptstraße unsres Städtchens hinabging, sahen wir zwei zerlumpte kleine Kinder sehnsüchtig in die Fenster eines kleinen Goldschmiedladens schauen. Als meine Begleiterin sah, daß die Herrlichkeiten, die die Kinder bewunderten, mit vierzig und sechzig Pfennig ausgezeichnet waren, bückte sie sich, einer raschen Eingebung folgend, zu den Kleinen herab und sagte: „Möchtet ihr gerne so ein Armband haben? Ich will jedem von euch eins schenken, wenn ihr’s gerne haben wollt.” Die Kinder schauten uns mit spöttischer Miene an und antworteten altklug und ungläubig. Meine Begleiterin war jedoch im nächsten Augenblick im Laden verschwunden, und ehe die Kleinen noch begriffen, was sie vorhatte, ließ sie jedem einen schimmernden Silberreif über das kleine Handgelenk gleiten. „Das gehört euch”, hörte ich sie sagen, „ganz und gar euch!” Dann gingen wir weiter, während die Kinder davontrollten, offenbar zu verwirrt, um ihrer Sache ganz sicher zu sein.

Seit jener Zeit habe ich mich dieses Vorfalls oft erinnert und seine höhere Bedeutung erwogen. Wie manchmal stehen nicht wir Großen, die wir oft ein so geringes Maß der Gesundheit und des Glücks erleben, wie Bettelkinder in den Straßen dieser irdischen Wanderschaft und starren sehnsüchtig nach irgend etwas Gutem, das unsrer Meinung nach zu herrlich ist, als daß es jemals unser eigen werden könnte. Die Sterblichen, die in ihrer großen Weisheit nur Armut, Krankheit und Elend erwarten, kehren sich innerlich gleichsam achselzuckend ab, wenn man sie auf einen liebenden Schöpfer, ein herrliches Leben oder überreiche Versorgung als auf etwas für sie Erreichbares hinweist, so arm an derlei Segnungen war ihre bisherige Erfahrung. Und dennoch ist das ewig Gute, die unerschöpfliche Fülle für uns alle da; es ist Gottes Wohlgefallen, es uns zu geben, und unser gegenwärtiger Begriff vom Guten ist wie Kinderspielzeug im Vergleich zu den Schätzen des Geistes, die wie Paulus sagt, „kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehöret hat und in keines Menschen Herz kommen” sind, die aber, wie er uns versichert, unser Vater-Mutter Gott für uns „bereit hat”.

Im fünften Kapitel des Johannes-Evangeliums lesen wir, daß Jesus einst am Teich Bethesda einen lahmen Mann traf, der achtunddreißig Jahre lang zugesehen hatte, wie viele seiner Mitmenschen einigermaßen Hilfe für ihre Leiden fanden, während er selbst keine erlangen konnte. Jesus fragte ihn: „Willst du gesund werden?” Und der Mann erwiderte — mit welch dumpfer Verzweiflung kann man sich wohl vorstellen!—„Herr ich habe keinen Menschen, wenn das Wasser sich beweget, der mich in den Teich lasse; und wenn ich komme, so steiget ein anderer vor mir hinein.” Da ereignete sich, was dem sterblichen Sinn als ein Wunder erschien, Jesus heilte ihn augenblicklich und nur durch geistige Kraft; und der Mann „nahm sein Bette und ging hin.”

Heutzutage kommt die Christus-Idee wiederum zu uns, mitten in unsre Armut und unsre Wirrnisse. Sie ist uns mit erneuter Kraft offenbart worden durch die göttliche Wissenschaft und fragt uns voll Erst: Willst du gesund werden? Obgleich wir äußerlich solch herrlicher Möglichkeit beistimmen mögen, flüstert es doch oft genug in unserm Innern: „Wie sollte das möglich sein?” Unsre Gebete finden oft deshalb nicht rascher Erhörung, weil der Gedanke, so viel Gutes zu empfangen, uns von vornherein den Atem raubt. Auch nimmt die Empfindung, daß dieses oder jenes „zu gut” sei, „um wahr zu sein”, einen soviel größeren Raum in unserm Bewußtsein ein als die Erkenntnis, daß das Gute eben deshalb, weil es das Gute ist, wahr sein muß. Wir werden versucht zu glauben, daß Gott uns diese Segnungen nicht wirklich zugedacht habe, und daß irgend ein widriger Umstand unsre Hoffnung auf Freude zunichte machen könne. Und doch sagte unser Meister: „Welcher ist unter euch Menschen, so ihn sein Sohn bittet ums Brot, der ihm einen Stein biete? oder so er ihn bittet um einen Fisch, der ihm eine Schlange biete? So denn ihr, die ihr doch arg seid, könnt dennoch euren Kindern gute Gaben geben, wieviel mehr wird euer Vater im Himmel Gutes geben denen, die ihn bitten!”

Hier wird vielleicht der Einwand erhoben: „Ja, wie erklärt es sich aber, daß all die frommen Leute, die den höchsten Glauben und das größte Vertrauen auf Gottes Verheißungen hatten, doch so selten die Erfüllung ihrer irdischen Hoffnungen erlebten?” Die Christliche Wissenschaft fertigt solche Frager nicht mit der frommen Erklärung ab, daß eben menschliche Wünsche alle mehr oder weniger trügerisch seien und es viel besser wäre, wenn sie niemals verwirklicht würden. Ein irdischer Vater wird seinem Kleinen nicht den rosenroten Ballon wegnehmen, um ihm dafür Interesse für Astronomie beizubringen. Ebensowenig will Gott, wie wir Ihn jetzt verstehen, uns dadurch zu einem höheren Begriff Seiner Herrlichkeit führen, daß Er uns die unzulänglichen Ideale, die wir hegen, durch einen harten Urteilsspruch nimmt. Es ist vielmehr so: Viele von denen, die da glauben, das größte Vertrauen auf Gottes Güte zu haben, halten doch nicht ohne Wanken an der Erwartung fest, daß ihnen als Antwort auf ihre Gebete alles Gute unverfälscht und ohne Maß zuströmen werde, sondern sie machen in der entscheidenden Prüfungsstunde mit ihrem Glauben kehrt, indem sie es sich zur Tugend anrechnen, sich auch ohne Erhörung zufriedenzugeben oder sie in einer fernen Zukunft zu erwarten. Sie haben dabei das wenn auch nur unklare Gefühl, daß das Gute, um das sie bitten, „zu gut” sei, „um wahr zu sein.”

Nun mag einer einwenden: „Ich glaube aber doch an Gott! Ich glaube an die Christliche Wissenschaft. Ich habe das Gute erwartet, aber je mehr Mühe ich mir gebe, desto größer wird meine Not; es scheint schlimmer und schlimmer zu werden!” Das einzig Richtige ist, sich weiter Mühe zu geben. Selbst wenn der sterblichen Erfahrung nach „eins nach dein andern” über uns kommt, wie man oft sagen hört, so naht doch der Augenblick, wo das Behaupten der Wahrheit, das beharrliche Bestehen auf der Gegenwart und Macht der Liebe die Not durchbricht, wie furchtbar sie auch scheinen möge. Dann erleben wir es, daß Gott in Wirklichkeit Gott ist, daß Er unendliche Macht besitzt und alles regiert.

Die Christliche Wissenschaft zerreißt die Nebelschleier des sterblichen Gemüts und offenbart uns von neuem die großen Tatsachen des Seins, nämlich, daß Gott gut ist, daß der Mensch Sein Bild und Gleichnis ist und deshalb hier und jetzt das unendliche Gute widerspiegelt. Sie offenbart uns auch, daß alles Verlangen nach Gesundheit, Reichtum, Glückseligkeit, Freuden, Heimat, Erziehung, Kunst, Schönheit und Liebe, das je aus dem sehnenden Herzen der Menschheit aufstieg, für den Menschen, der Gottes Bild ist, bereits von Ewigkeit her gestillt ist.

Ein kleines Mädchen, das die Sonntagsschule der Christlichen Wissenschaft besuchte, sagte einst, als sie hörte, daß eine kleine Spielgefährtin sie nicht besuchen könne, weil sie erkältet zu Bett liege: „Was! Krank im Bett! Ja, hat man ihr denn nicht gesagt, daß Gott sie lieb hat?” Wir älteren Kinder sollten uns diesen kindlichen Vorwurf in gewichtigeren Fragen zur Lehre dienen lassen und antworten: „Ja, liebes Kind, auch uns ist’s gesagt worden, und zwar schon vor neunzehnhundert Jahren, daß Gott uns liebt, aber wir haben es nie so recht geglaubt und verstanden; wir haben es nicht auf unsre besonderen Angelegenheiten bezogen, denn sonst hätten wir gewiß das Gute empfangen, das wir ersehnten.”

Allen denen, die geduldig arbeiten, wachen und beten, die ernstlich danach ringen, sich von der Welt des Scheins abzukehren und sich der geistigen und vollkommenen Welt, wie Gott sie kennt, zuzuwenden, gilt der Zuruf: „Zaget nicht!” Denn sie werden sich bald freuen können mit den Worten jenes menschlichsten und göttlichsten aller Psalmen: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sein. ... Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen und tragen edlen Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.”


Das eben ist der Liebe Zaubermacht,
Daß sie veredelt, was ihr Hauch berührt,
Der Sonne ähnlich, deren goldner Strahl
Gewitterwolken selbst in Gold verwandelt.

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