Unter denen, die sich nicht die Mühe genommen haben, einen Einblick in das Wesen der Christlichen Wissenschaft zu tun, herrscht vielfach die Ansicht, daß diese Lehre ausschließlich ein Heilmittel für körperliche Leiden sei, eine Art Universalarznei, der man etwas Religion beigemischt habe, um sie schmackhafter zu machen. Eine solche falsche Auffassung von der Christlichen Wissenschaft ist darauf zurückzuführen, daß die Kirche das Heilungswerk Jesu und seiner Apostel seit Jahrhunderten nicht mehr als einen wichtigen Teil des Christentums aller Zeiten angesehen hat.
Ferner ist man durch diese Vernachlässigung zu dem Glauben gekommen, daß zwischen der Heilung von Krankheit und der Heilung von Sünde keine Verbindung bestehe. Kirchlich gesinnte Leute haben sich so sehr an diese Annahme gewöhnt, und sie glauben so fest, Jesu Werke seien nur für eine beschränkte Zeit bestimmt gewesen, daß sie es als eine unerhörte Anmaßung betrachten, wenn jemand im Namen Gottes und ohne Arzneimittel zu heilen sucht. Nun ist die Christliche Wissenschaft so erfolgreich gewesen, daß, wenn ihre Aufgabe einzig im Heilen von Krankheit bestände, ihre Entdeckerin und Gründerin schon deshalb den Dank der leidenden Menschheit verdient hätte. Aber zum Glück reicht ihre Wirksamkeit viel weiter. Seit fast einem halben Jahrhundert sind die Sünder sowohl wie die Kranken geheilt worden, wie zur Zeit Jesu und seiner Apostel. Wir dürfen die Tatsache nicht aus dem Auge verlieren, daß die körperlichen Heilungen nur die „mitfolgenden Zeichen” sind, und daß sie den Besitz jener höheren Gotteserkenntnis bekunden, nach der die Christen von jeher gestrebt haben.
Wenn der Christus in die menschliche Erfahrung kommt, so muß das die Vernichtung alles Bösen, alles Gott Unähnlichen zur Folge haben, und dazu gehören sowohl Krankheit wie Sünde. Matthäus neun lesen wir, wie der Meister auf die enge Beziehung zwischen Krankheit und Sünde hinweist. Als er zu dem Gichtbrüchigen sagte: „Sei getrost, mein Sohn; deine Sünden sind dir vergeben”, und die Schriftgelehrten ihn deshalb der Gotteslästerung ziehen, erwiderte er ihnen: „Welches ist leichter: zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Stehe auf und wandle?” Und zum Beweis, daß Vergebung der Sünden und körperliche Heilung nicht getrennt sind, sagte er zu dem Kranken: „Stehe auf, heb dein Bette auf und gehe heim.” Ist es ein Wunder, daß das Volk sich verwunderte und Gott pries, „der solche Macht den Menschen gegeben hat”?
Webster, der amerikanische Lexikograph, bestimmt den Begriff Christentum wie folgt: „Die Religion der Christen; die Gesamtheit der Lehren und Vorschriften Christi. ... Die praktische Übereinstimmung des inneren und äußeren Lebens eines Menschen mit dem Geiste der christlichen Religion.” Wir brauchen nun nicht weit zu gehen, um festzustellen, worin die Religion der Christen besteht und welcher Art die Lehren und Vorschriften Christi sind. Spricht der Meister nicht sehr deutlich, wenn er sagt: „Das Himmelreich ist nahe herbeikommen. Machet die Kranken gesund, reiniget die Aussätzigen, wecket die Toten auf, treibet die Teufel aus”?
Die Christliche Wissenschaft fußt auf dem ganzen Evangelium Christi Jesu. Es geht dies schon daraus hervor, daß nicht alle Zeugnisse, welche über die durch die Christliche Wissenschaft erlangte Hilfe abgegeben werden, sich auf die Heilung von körperlichen Leiden beziehen; auch legen die Christlichen Wissenschafter nicht größeres Gewicht auf das Heilen von Krankheit als auf das Heilen von Sünde. In den Mittwochabend-Versammlungen hört man sehr oft von Personen, die eine auffallende körperliche Heilung berichtet haben, die Bemerkung, daß sie am meisten für die durch die Christliche Wissenschaft erlangte geistige Erhebung und Erneuerung dankbar seien.
Mrs. Eddy sagt in Wissenschaft und Gesundheit (S. 406): „Sünde und Krankheit werden beide durch ein und dasselbe Prinzip geheilt”, und auf Seite 404 erklärt sie: „Das Heilen der Kranken und die Umwandlung der Sünder ist in der Christlichen Wissenschaft ein und dasselbe.” Es ist daher die Aufgabe des ausübenden Vertreters der Christlichen Wissenschaft, sich der Allmacht und Allgegenwart Gottes so klar bewußt zu werden, daß er sowohl der Krankheit wie der Sünde mit Erfolg entgegentreten kann. Das Evangelium Jesu verlangt, daß seine Nachfolger vollkommen seien, „gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist”. Das Verständnis von der Christlichen Wissenschaft und ihre Wahrheitsbeweise bahnen uns den Weg zur Vollkommenheit.