Mrs. Eddy bezeichnet die Bergpredigt als das Wesen der Christlichen Wissenschaft (siehe Wissenschaft und Gesundheit, S. 271), und des Meisters erste Äußerung in dieser wunderbaren Rede lautete: „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr.” Ferner sprach er zu seinen Zuhörern von den Segnungen, welche die Sanftmütigen, die Barmherzigen, die, die reines Herzens sind, und ähnlich Gesinnte in der Wahrheit erlangen, und beschloß dann die Reihe von Seligpreisungen mit der abermaligen Erklärung: „Denn das Himmelreich ist ihr.” Dies war des Meisters erste Botschaft an die Menschenkinder, und sie bildet die Grundlage der Lehre des Evangeliums. Die letzte Botschaft im Neuen Testament ist im 21. und 22. Kapitel der Offenbarung enthalten. Sie ist eine Beschreibung des neuen Himmels und der neuen Erde, die das Himmelreich bilden.
Der Ausdruck „das Himmelreich” bedeutet die Herrschaft des Messias auf Erden oder die Herrschaft der Wahrheit im menschlichen Bewußtsein. Es ist das Himmelreich, das Johannes der Täufer vorhersah und von dem er den Menschen seiner Zeit sagte, es sei nahe herbeikommen. Es ist das Himmelreich, das, wie der Apostel Johannes in der Offenbarung dartut, nach der großen geistigen Gährung gegründet werden würde, die er als den Streit von Harmagedon bezeichnet, nachdem das Tier „gegriffen” wäre „und mit ihm der falsche Prophet, der die Zeichen tat vor ihm, durch welche er verführte, die das Malzeichen des Tiers nahmen und die das Bild des Tiers anbeteten.” Mrs. Eddy sagt: „Das Tier und die falschen Propheten sind Wollust und Heuchelei” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 567). Wollust bedeutet hier den materiellen Sinn und seine gesamte angebliche Wirksamkeit.
Wie Jesus „der höchste menschliche Begriff vom vollkommenen Menschen” war (Wissenschaft und Gesundheit, S. 482), so ist das Himmelreich der höchste menschliche Begriff vom Reich Gottes. Ein neuerer Bibelausleger, der dies erkannt hat, schreibt: „Da das Himmelreich die irdische Sphäre des universellen Reichs Gottes ist, so haben beide fast alle Dinge gemein. Aus diesem Grunde handeln im Evangelium des Matthäus viele Gleichnisse und andre Lehren vom Himmelreich, hingegen in den Schriften des Markus und Lukas vom Reich Gottes. Dieser Unterschied ist bedeutsam. Die Gleichnisse von dem Unkraut unter dem Weizen und von dem Netz sind nicht in bezug auf das Reich Gottes gesprochen. In diesem Reich gibt es weder Unkraut noch faule Fische.”
Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Zeit gekommen ist, wo das Himmelreich im menschlichen Bewußtsein aufgerichtet werden muß, und auf dieses Werk verwenden die Christlichen Wissenschafter ihre Zeit und Kraft. Die Christliche Wissenschaft befähigt uns nicht nur, die Kranken zu heilen und in geschäftlichen Dingen Erfolg zu haben, sondern sie offenbart uns auch, wie dem Johannes, den neuen Himmel und die neue Erde, wo weder Tod, Leid noch Geschrei, weder Neid, Mißgunst, Haß noch Krieg mehr sein wird.
Liegt nicht die Gefahr nahe, daß wir als Christliche Wissenschafter zu eifrig an kleineren, an sogenannten persönlichen Problemen arbeiten, und daß wir darüber die wahre Aufgabe aus dem Auge verlieren, mit der wir betraut worden sind? Gott verlangt von uns, daß wir die größeren Werke tun. Wir sollen die Kranken heilen und Irrtum in jeder Gestalt überwinden, aber nur dadurch, daß wir dem Christus, der Wahrheit, in unserm Bewußtsein Einlaß gewähren. Die Christliche Wissenschaft ist kein bloßes Bekenntnis, sondern sie umfaßt den höchsten Liebesdienst. Wir sollen das Heilungswerk betreiben, aber nur so, wie Jesus, der in dem sein mußte, was seines Vaters war. Wir müssen in allen unsern Wegen Gott vor Augen und im Herzen haben, müssen eingedenk bleiben, daß Sein Reich hier und jetzt gegründet ist und daß Sein Wille geschieht. Es gibt keine andre wahre Heilmethode als diese Erkenntnis von der Gegenwart der himmlischen Vollkommenheit. Nur das Bewußtsein, daß Gott bei den Menschen wohnt, nur das Bewußtsein von der steten Gegenwart des Christus, der Wahrheit. überwindet den Irrtum. Wir wollen also mit nichts Geringerem zufrieden sein.
Oft hört man die Frage, wie man wissen könne, ob man für die berufsmäßige Ausübung des christlich-wissenschaftlichen Heilens bereit ist. Ein Mensch ist hierzu dann bereit, wenn sein Bewußtsein so mit Wahrheit erfüllt ist, daß die Kranken und Sünder seine Zeit immer mehr in Anspruch nehmen und er sich zuletzt genötigt sieht, alles andre für diese herrliche Tätigkeit aufzugeben. Viele haben den Wunsch, Leiden zu lindern, doch sind die einzig wahren Ausüber der Christlichen Wissenschaft diejenigen, die erkennen, daß der Mensch im Reich Gottes lebt, webt und ist. Sie wissen, daß die christlich-wissenschaftliche Behandlung nicht Gesundheit bewirkt, sondern sie zutage treten läßt. Jesu Mission bestand darin, des Menschen Sohn und den Sohn Gottes zu offenbaren, und zu beweisen, daß letzterer eins ist mit dem Vater. Er heilte die Kranken nicht nur, um ihr Leiden zu lindern. Er war stets barmherzig, empfand aber ein höheres Gefühl der Liebe als es das sterbliche Gemüt fassen kann. Als er gefragt wurde, warum dem Blindgeborenen ein solches Übel widerfahren und auf wessen Sünde seine Blindheit zurückzuführen sei, schenkte er einer sogenannten materiellen Verursachung keine Beachtung, sondern antwortete, der Zweck der Heilung sei der, daß die Werke Gottes offenbar würden; und nachdem er erklärt hatte, er sei das Licht der Welt, öffnete er die Augen des Blinden.
In seiner Erzählung von der Verwandlung des Wassers in Wein auf der Hochzeit zu Kana sagt der Apostel Johannes, Jesus habe dadurch seine Herrlichkeit geoffenbaret — die Herrlichkeit des Sohnes Gottes, der im Himmel ist, wenn auch der Sohn des Menschen auf Erden unter den Menschen wandelt. Er erweckte Lazarus zur Ehre Gottes und zur Verherrlichung des Sohnes Gottes. In bezug auf Lazarus sagte er zu seinen Jüngern: „Ich bin froh um euretwillen, daß ich nicht dagewesen bin, auf daß ihr glaubet”— weil sie nämlich den Beweis von der Herrschaft des Sohnes Gottes erleben würden. Als er am Grabe stand, versuchte er nicht, einen toten Menschen zu erwecken. Sein Denken erhob sich in einem Dankgebet, denn er wußte, daß der Vater ihn stets hörte. Dies war die rechte Art des Betens, die wahre Gemeinschaft mit dem Vater. Sein Friede konnte nicht gestört werden, denn dieser war das Ergebnis seiner Gotteserkenntnis. Sein Vertrauen auf Gott wankte nicht, weder beim Sturm auf dem See, noch in Gegenwart von Krankheit, weder am Grabe des Freundes noch bei der Überwindung des Todes im eignen Grabe. Johannes schreibt in seinem Evangelium: „In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheinet in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht begriffen.” Könnte das Heilen schöner und einfacher beschrieben werden?
Leben, Unsterblichkeit, unendliche Liebe, das Reich Gottes — all dies scheint vom jetzigen Standpunkt der sterblichen Erfahrung aus sehr weit entfernt, sehr unwirklich zu sein. Unsern Augen, Ohren und Gedanken stellen sich Haß und seine Wirkungen, Tod und Vernichtung, als Wirklichkeiten dar, und es scheint, als ob der Tod, statt „der letzte Feind” zu sein, der überwunden werden muß, das Mittel sei, durch das die Menschen ihre Feinde überwinden und Herrschaft und Schutz erringen müssen. Mitten in dieser scheinbaren Verwirrung und Not hört der, dessen Ohr für die Wahrheit empfänglich ist, die freundliche Ermahnung: „Höre das Gesetz von seinem Munde und fasse seine Reden in dein Herz. ... Dann wirst du deine Lust haben an dem Allmächtigen. ... Was du wirst vornehmen, wird er dir lassen gelingen; ... denn die sich demütigen, die erhöhet er; und wer seine Augen niederschlägt, der wird genesen.
Die heutige Welt braucht die Christliche Wissenschaft. Niemand findet sie aber, der nur Freisein von physischem Schmerz oder die Lösung persönlicher Probleme sucht und die Erklärungen der Wahrheit mit Vorstellungen von Mein und Dein verfälscht, mit Vorstellungen des sterblichen Sinnes, die die Erzeuger von Furcht und ihren Begleitern sind. Nur dadurch wird das Himmelreich in unsrer Mitte aufgerichtet werden, daß sich jedes Mitglied der menschlichen Familie durch Erneuerung des Sinnes verändert, wie Paulus sagt, sich in das Bild von Gottes liebem Sohn verwandelt. Unsre Führerin faßt den Vorgang kurz zusammen, wenn sie uns sagt, dies müsse geschehen durch die Zurückübertragung des Menschen und des Universums in den Geist (siehe Wissenschaft und Gesundheit, S. 209). Die Christlichen Wissenschafter wissen, was es bedeutet, durch Erneuerung des Gemüts umgewandelt zu werden, sie verstehen, daß ein solches Eingehen in das Himmelreich dann möglich ist, wenn Gesundheit und Harmonie als der normale Zustand des Menschen, des Bildes Gottes, erkannt wird.
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