Wir kennen alle jene Geschichte im Alten Testament von dem Mann in der Löwengrube. Diese Geschichte gewinnt jedoch ihre Bedeutung mehr durch die Gegenwart eines Engels als durch die eines Menschen. Auf Seite 581 von Wissenschaft und Gesundheit finden wir folgende Definition von Engel: „Gottes Gedanken, die zum Menschen kommen; geistige Eingebungen, die rein und vollkommen sind; die Inspiration der Güte, Reinheit und Unsterblichkeit, allem Bösen, aller Sinnlichkeit und aller Sterblichkeit entgegenwirkend.”
Es ist sehr hilfreich, bei der Betrachtung der Erfahrung Daniels diese Definition klar vor Augen zu behalten. Wir kennen alle die vorliegende Geschichte: wie der Prophet sich an dem verderbten Hof eines heidnischen Volkes fast ganz allein zu Gott bekannte; wie ihm seine hohe Weisheit und sein edler Charakter wiederholt Anerkennung gebracht hatten; und wie er von drei aufeinanderfolgenden Königen mit dem höchsten Amt im Reiche betraut wurde. Wir erinnern uns ferner, daß er trotz der verantwortungsvollen Pflichten, denen er Tag für Tag nachzukommen hatte, stets seinen Frieden und seine unerschütterliche Ruhe bewahrte, daß aber die Höflinge um ihn her ganz andre Eigenschaften bekundeten. Wie leicht zu verstehen ist, war der einfache, weise und geistig gesinnte Mann mit all den Auszeichnungen diesen sinnlichen und götzendienerischen Menschen ein Dorn im Auge, ja ohne Zweifel machten ihn seine Demut und seine Reinheit zur Zielscheibe ihres Spottes und Hohnes. Jedenfalls glaubten sie, Daniel habe sie um die hohe Stelle betrogen, die er bekleidete, und seine edle Gesinnung war ihnen ein beständiger Verweis. Daher hegten sie Gedanken der Eifersucht und des Hasses und betrieben heimliche Anschläge gegen ihn. So geschah denn, was immer geschieht, wenn böse Gedanken gehegt werden — sie reiften zur Tat.
Diese Fürsten verschworen sich gegen Daniel. Sie wollten ihn da treffen, wo nach ihrer Ansicht seine schwächste Stelle war, nämlich an seiner Treue gegen seinen Gott. Wir wissen alle, was geschah. Der König, Daniels einziger Freund, war geistig nicht wach und unterschrieb daher das Gebot, welches verordnete, daß ein jeder, der zu einem Gott bete anstatt zum Könige selber, gegen das Gesetz handle und zur Strafe den Löwen vorgeworfen werden solle. Daniel ging ruhig seinen Pflichten nach und betete wie gewöhnlich dreimal des Tages zu seinem Gott. Seine Feinde spähten seinen Ungehorsam gegen das neue Gesetz aus und verklagten ihn bei dem nunmehr erwachten König.
Es schien als ob der Irrtum ungehindert sein Werk vollbringen könne; denn weder die Bemühungen des Königs noch die Gebete des Propheten brachten Befreiung. Der Mann Gottes mußte in die Löwengrube, und der Stein wurde versiegelt. Vom menschlichen Standpunkt aus war die Lage in der Tat verzweifelt. Dem Daniel stand eine lange Nacht bevor, und um ihn her waren die gierigen Bestien, Verkörperungen der Grausamkeit und Zerstörungssucht — Bekundungen jener arglistigen Macht, der er scheinbar zum Opfer gefallen war.
Vergeudete Daniel seine Zeit damit, sich selbst zu bedauern oder zu verdammen, sich gegen diese Ungerechtigkeit aufzubäumen und Gedanken des Hasses zu hegen? Gab er auch nur im geringsten den Furchtgedanken nach, die ihn seines Friedens und seiner Ruhe zu berauben drohten? Keineswegs. Wir dürfen annehmen, daß Daniel auf Grund seines erhabenen Denkens diese ganze Erfahrung deutlich als eine Nichtsheit erkannte. Falls Furchtgedanken sich ihm aufdrängen wollten, so ist sicher, daß er sie durch sein klares Bewußtsein von Gottes Allgegenwart vertrieb. Seine Erlösung vollzog sich jedoch nicht plötzlich; am Morgen war er immer noch in der Grube, ja scheinbar verschlimmerte sich die Lage mit dem zunehmenden Hunger der Löwen. Aber trotz seines langen Aufenthaltes bei den Bestien wurde ihm kein Haar gekrümmt. Obschon er den Stachel des Hasses und die Angriffe der Bosheit zu fühlen bekam, war er doch beschützt vor den üblen Folgen.
Dann kam jene eindrucksvolle Szene, wo Furcht und Hoffnung, Zweifel und Glaube mit einander rangen. Den König hatte sein schwaches Vertrauen auf den „Gott Daniels” (nicht auf seinen eignen) so ziemlich verlassen, und die Furcht trieb ihn am frühen Morgen zu seinem geliebten Propheten. Seine Stimme klang „kläglich” als er rief: „Hat dich auch dein Gott, dem du ohne Unterlaß dienest, mögen von den Löwen erlösen?” Wir können uns vorstellen, wie gespannt er auf eine Antwort horchte. Aber die Worte Daniels bekundeten weder Furcht noch Hast, ja er begann sogar mit dem üblichen orientalischen Gruß. Mit ruhiger Stimme antwortete er: „Der König lebe ewiglich! Mein Gott hat seinen Engel gesandt, der den Löwen den Rachen zugehalten hat, daß sie mir kein Leid getan haben; denn vor ihm bin ich unschuldig erfunden; so hab ich auch wider dich, Herr König, nichts getan.”
Hier also lag das Geheimnis der Erlösung Daniels: der Engel Gottes war die lange Nacht hindurch bei ihm gewesen, bei dem Manne, der unschuldig erfunden worden war und nichts Böses getan hatte — und die Gegenwart des Engels hatte den Löwen den Rachen verschlossen. Was war das Wesen dieses Engels? Er war einer von „Gottes Gedanken, die zum Menschen kommen;” er war der freie Ausfluß der göttlichen Wahrheit, der durch keine Haß- oder Furchtgedanken verhindert wurde, in das von Liebe erfüllte Bewußtsein des unschuldigen Propheten einzudringen.
Alsdann zogen sie, wie wir des weiteren lesen, „Daniel aus dem Graben, und man spürte keinen Schaden an ihm; denn er hatte seinem Gott vertrauet.” Solange also die Wiederspiegelung der unendlichen Macht bei den Löwen verweilte, war ihr scheinbares Raubtierwesen umgewandelt und sie waren so harmlos wie die Lämmer. Die Liebe hatte die sterbliche Finsternis erleuchtet, und aller Haß war verbannt. Diejenigen, die offene Augen hatten, konnten eine weitere Lehre ziehen, als der zornige König Daniels Feinde in die gleiche Löwengrube werfen ließ. Eine zerstörende Denktätigkeit stieß auf eine andre zerstörende Denktätigkeit, und die grauenhafte Szene, die sich abspielte, stellt die alleinige Macht bloß, die der Haß besitzt, nämlich sich selbst zu zerstören.
Daniel hat uns in der Tat ein herrliches Beispiel von Mut und Glauben gegeben. Das geistige Erwachen, das jedem großen Sieg über den Irrtum folgt, beschränkte sich nicht nur auf seine Zeitgenossen, sondern von jenem Tag an bis heute hat diese einfache Erzählung Millionen von Lesern ermutigt, recht zu tun und Glauben zu halten. Daniels Beschützung, des können wir sicher sein, war gänzlich das Ergebnis seines richtigen Denkens. Der Engel weilte bei Daniel, weil Daniel bei dem Engel weilte. Seine Empfänglichkeit für die Wahrheit, seine erhabene Denkweise war es, die die geistige Eingebung (den Engel) möglich machte. Durch seine beständige Treue und Liebe hatte er dem himmlischen Besucher die Tür zu seinem Bewußtsein weit geöffnet, und in jener Stunde großer Not blieb er bei ihm. Daniel bewies dadurch in herrlicher Weise, daß der tierische Magnetismus selbst in seiner schlimmsten Äußerung nichts als eine sterbliche Illusion ist, ein machtloses Nichts.
In dieser ganzen Erfahrung legte der Prophet ein unbedingtes Vertrauen auf das Prinzip an den Tag. Außerhalb der Grube hatte er sich geweigert, nach menschlicher Weise mit seinen Gegnern einen Vergleich einzugehen oder sich sonstwie dem Irrtum zu unterwerfen, damit sein persönliches Wohlergehen nicht beeinträchtigt werde. In der Grube selbst wandte er sich ab von allen menschlichen Hilfsmitteln und verließ sich unbedingt auf Gott. Seine Errettung hing demnach nicht von seiner Entfernung aus der Löwengrube ab, sondern vielmehr von der Vernichtung der tierischen Eigenschaften, die die Löwen zum Ausdruck brachten. Mit andern Worten, seine Errettung war das direkte Ergebnis seiner geistigen Erkenntnis. Er suchte weder seine Feinde noch die Löwen mit sterblichen Mitteln zu bekämpfen, sondern erhob sein Denken zu der Erkenntnis des wahren Wesens des Menschen, zu jenem Bewußtsein von der Allgegenwart Gottes, welches die Erlösung bildet und in welchem alle göttlichen Wesen wie die Engel sind und weder zerstören noch zerstört werden können.
Auf gleiche Weise lernen wir heute als Christliche Wissenschafter, einen Wechsel in Umständen dadurch herbeizuführen, daß wir über diese Umstände anders denken lernen. Daniel war in der Grube ebenso geborgen wie außerhalb derselben; denn er wußte, daß Schutz nicht von Ort und Umständen abhängig ist, sondern von der Erkenntnis, daß der Mensch eins ist mit Gott. Wenn wir, wie der Prophet, mit unerschütterlichem Glauben auf Gott schauen, werden wir ebenfalls die Erfahrung machen, daß der Engel nicht draußen auf uns wartet. Die göttliche Liebe ist mit uns in der Grube, nimmt uns unter ihre schützenden Flügel und hebt uns sicher heraus, wenn es auch manchmal lange zu dauern scheint. In dem Maße, wie wir die geistigen Ideen erfassen, erfassen wir auch die Unzerstörbarkeit des geistigen Daseins; und je nach den Gedanken, die wir aufnehmen oder verwerfen, nehmen wir die Engel auf oder verwerfen sie.
Eins der schwierigsten Dinge, die der Mensch zu lernen hat, ist, seine Feinde zu lieben. Wenn wir bedenken, daß der Prophet nicht nur in hohem Grade von Mut und Gottvertrauen sondern auch von erhabener Liebe erfüllt gewesen sein muß, so verstehen wir, warum sein Bewußtsein ein Aufenthaltsort für Engel war. Daniels Gefährten in jenen Tagen der Intrige und Verfolgung waren weder neidische Höflinge noch hungrige Löwen, sondern eine Schar „weißbeschwingter Engel,” wie Mrs. Eddy es ausdrückt (Poems, S. 12).
Das Ausstrahlen von Liebe war kein geringer Teil der Demonstration Daniels. Sein Verhalten war nichts weniger als passiv, auch ging er den Schwierigkeiten nicht aus dem Wege, bis die Zeit die Anfeindungen aufgehoben haben würde. Das positive, wirksame Walten des Gesetzes der Liebe in seinem Bewußtsein, die vollständige Ausschließung aller Haßgedanken — dies war es, was seine Erlösung bewirkte. Es besteht kein Zweifel, daß Daniel, wie der Messias später lehrte, seine Feinde liebte, diejenigen segnete, die ihm fluchten, und für diejenigen betete, die ihn verfolgten. Auch wir müssen unser Bewußtsein rein halten, damit wir die Liebe, die keine Feinde kennt, beständig wiederspiegeln können. Dann werden wir gefährliche Lagen in Nichts aufgehen sehen; denn der Engel — jenes allezeit wirksame schützende Gesetz — wird mit uns sein. Er ist jetzt mit uns und schafft unser Heil und Wohlergehen, wenn wir uns nur die Mühe geben, ihn zu sehen.
Die Geschichte von Daniel in der Löwengrube ist für uns alle von unschätzbarem Wert, denn sie lehrt uns Mut, Treue, Glauben und Liebe. Wenn wir diese Eigenschaften in unser Denken aufnehmen, wenn sie in dem läuternden, vergeistigenden Vorgang, der Tag für Tag stattfindet, in Wirksamkeit treten, dann werden sie auch uns zu jenem harmonischen Bewußtsein führen, wo Gottes Gedanken stets bei uns sind. Und wo Gottes Gedanken sind, wo Gott zum Ausdruck kommt, offenbar wird, da ist gewisse Erlösung und gewisser Friede.
