Eine jener eindrucksvollen Stellen in unserm Lehrbuch, deren Wahrheit jeder denkende Leser zugeben muß, lautet wie folgt: „Die göttliche Liebe kann ihrer Offenbarwerdung oder ihres Gegenstandes nicht beraubt werden; Freude kann nicht in Leid verwandelt werden, denn Leid ist nicht der Herr der Freude; Gutes kann niemals Böses hervorbringen; Materie kann niemals Gemüt hervorbringen, noch kann Leben im Tode enden” (S. 304). Diese völlige Umkehrung allgemein geglaubter Dinge ist gewiß geeignet, das menschliche Gemüt wenigstens teilweise aus seinem durch den falschen Sinn und durch falsche Lehren erzeugten Traum zu wecken. Die zitierte Stelle ist von umfassendster Bedeutung, und es sei daher in Folgendem nur von dem einen Satz die Rede, der Freude und Leid in richtige Beziehung zu einander bringt, und aus dem hervorgeht, daß Leid nur die Verneinung der Fülle und Unwandelbarkeit der Freude ist, die der Mensch als sein göttliches Erbe besitzt. Freude ist positiv und wirklich, Leid aber negativ, zeitlich und unwirklich.
Durch eine eigentümliche Umkehrung der Wahrheit hat das menschliche Gemüt immer das Leid als etwas dargestellt, was man bewundern, zu dem man aufblicken soll, dem man zwar nicht gerade nachzustreben braucht, das aber doch weit mehr Wert hat als Freude. So verkehrt ist in dieser Hinsicht das Urteil der Welt über das Christentum gewesen, daß Christus Jesus, das große Vorbild, hauptsächlich als „ein Mann der Schmerzen” hingestellt worden ist, statt als der von Gott Gesalbte. Und doch gab er ein völlig gegenteiliges Bild von sich selber, als er sagte: „Solches rede ich zu euch, auf daß meine Freude in euch bleibe und eure Freude vollkommen werde.”
Die Christliche Wissenschaft lehrt, daß das Geistige ewig ist. Paulus zählt die Freude unter die Früchte des Geistes. Das Verständnis der Wirklichkeit bringt dem Herzen Freude, denn es gründet sich auf die Erkenntnis Gottes. Der Begriff des Leides ist im göttlichen Gemüt undenkbar. Das allmächtige, allwissende und allgegenwärtige Gute kann keinen Gedanken des Verlustes oder der Trennung in sich schließen. Der geistige Sinn allein befähigt die Menschen sich über das Gefühl der Leere zu erheben. Als David sich wegen eines kranken Kindes betrübte, dann aber aufstand und sich salbte und zu seiner gewohnten Lebensweise zurückkehrte, als er erfuhr, daß das Knäblein gestorben war, konnten seine Knechte sein Verhalten nicht verstehen. Doch dieser Mann nach dem Heizen Gottes hatte die Notwendigkeit wahrer Buße erkannt, und er ließ sich daher nicht von Trauer um ein Menschenkind überwältigen, das, wie er wußte, sich nur auf eine andre Bewußtseinsstufe begeben hatte. Leid kann vor einem klaren Bewußtsein des Guten nicht bestehen.
Hiermit ist nicht gesagt, daß das Leid keine Gewalt über die Menschen zu beanspruchen sucht. Wer die Christliche Wissenschaft zeigt, daß es ein falscher Anspruch ist, daß Kummer und Schmerz ebenso beharrlich bekämpft und schließlich überwunden werden muß wie Sünde und Krankheit, denn kein unharmonischer Zustand entspricht dem göttlichen Wesen. Die auf Grund theologischer Lehren allgemein verbreitete Anschauung, daß Leiden aller Art vom himmlischen Vater komme, der Seine Kinder zu ihrem endlichen Wohl auf diese Weise regiere und strafe, hat vielfach zum Unglauben geführt. Unbedingte Unterwerfung, selbst wo es sich um einen höchst ungerechten Urteilsspruch handelt, ist von den Christen als das einzig Richtige angesehen worden. Mrs. Eddys Umkehrung dieser falschen Lehre hat so manches widerspenstige Herz in ein dankbar-liebendes Herz umgewandelt, hat so manchem verzagten Menschenkind, so manchem Opfer der Verzweiflung wieder aufgeholfen, so daß es an der „Freude am Herrn” erstarken und feststehen konnte.
Das menschliche Gemüt weist noch einen andern Zug auf: es hält bisweilen Kummer und Schmerz fest umfangen und will sich nicht trösten lassen. Sobald eine natürliche Reaktion eintritt, hält der Betreffende noch fester an dem Gefühl des Verlustes und klammert sich an das mentale Bild von dem, was er für den Räuber all seines Glücks hält. Ein solcher Mensch ist in der Regel ungläubig, wenn ihm gesagt wird, daß sein Zustand die Folge selbstsüchtigen, auf sich selbst gerichteten Denkens ist, und daß schon ein geringes Maß wirklicher Liebe gegen andre viel dazu beitragen würde, sein Bewußtsein von dem schweren Druck zu befreien.
Da Kummer und Schmerz der sterblichen Vorstellung nach eine Äußerung des bewußten sterblichen Gemüts ist, so ist er schwieriger zu überwinden als physisches Leiden. Der Gehorsam gegen das erste Gebot verlangt aber von den Sorgenden und Bekümmerten ebensowohl wie von den Sklaven andrer Vorstellungen, die dem Guten entgegengesetzt sind, daß sie sich bekehren, d. h. ihr Denken ändern. Wer da meint, er könne aus sich selber heraus seinen Schmerz heilen, und dies werde von ihm gefordert, verfällt in den Irrtum, die Persönlichkeit zu erheben. Seine Bemühungen werden sich als vergeblich erweisen. Die Wahrheit allein heilt; und die Erkenntnis, daß Schmerz und Kummer nicht wirklich sind, weil sie nicht von Gott kommen, beginnt sofort, den falschen Anspruch aufzuheben und das Denken mit dem Licht geistiger Erkenntnis zu erleuchten. Rein gefühlsmäßige Freude ist nur die menschliche Nachbildung. Wahre Freude ist geistig und beruht auf der Kenntnis geistiger Wirklichkeit. Nur diese Freude vermag dem Leid ein Ende zu machen.
Eine oft zum Ausdruck gebrachte Ansicht ist die, daß Freude der Jugend angehöre. Die Christliche Wissenschaft lehrt jedoch, daß diese Gabe des Geistes in jedem dankbaren Herzen vorhanden ist und sich weiter entfaltet, genau wie alle andern göttlichen Gaben. Sodann glauben viele, es erfordere Zeit, um das Gefühl des Leides zu überwinden. Erfüllt von der Erkenntnis der vollen Erlösung, erklärte der Apostel Paulus: „Jetzt ist die angenehme Zeit,” und die Christliche Wissenschaft bestätigt diese Erklärung. Freude sollte als eine der ersten christlichen Tugenden mit Eifer gepflegt werden. Furcht vor einem etwaigen Übel und kummervolles Hinbrüten umwölken nicht nur das Denken, sondern hindern auch die Bekundung der Freude und die Wirksamkeit des Gebets. Die Grundlage der wahren geistigen Gemeinschaft mit Gott ist Danksagung. Die Erkenntnis dieser Wahrheit befähigt uns, wahrhaft „unter dem Schirm des Höchsten” zu sitzen. Das Freuen sollte uns nicht schwer erscheinen, denn vor Gott „ist Freude die Fülle,” wie der Psalmist an andrer Stelle sagt.
