Einem jeden menschlichen Herzen wohnt das heimliche Verlangen nach Volksgunst inne. Dieses Verlangen ist vielfach die Ursache eines Furchtgefühls oder einer trotzigen Gleichgültigkeit gegenüber dem, was die Leute etwa sagen. Wie oft erwägen wir doch, ehe wir eine wichtige Entscheidung treffen, was wohl andre darüber denken. Und wie oft lassen wir uns von dem Zweifel und der Furcht beeinflussen, die eine solche Denkweise mit sich bringt! Sogar das lobenswerteste Vorhaben kann durch die feige Warnung unterdrückt werden: „Sieh dich vor, oder du kommst ins Gerede.”
Der Meister „wankte nie in seiner eignen persönlichen Auffassung von Rechtschaffenheit, weil ein andrer schlecht war oder weil seine Güte von andern herabgesetzt wurde,” wie Mrs. Eddy auf Seite 227 von Miscellany sagt. Wenn wir bestrebt sind, uns von dem einen Gemüt regieren zu lassen, warum fürchten wir uns dann vor dem, was die Leute sagen? Die öffentliche Meinung ist ein Irrlicht, parteiisch und unbeständig. Sie richtet nach ihrer persönlichen Auffassung. Ihr Lob oder ihr Tadel beruht gewöhnlich auf Hörensagen oder auf ihrer eignen falschen Auffassung. Wenn wir uns tugendhaft vorkommen, weil die Leute gut von uns denken, so ist unser Ruf auf Sand erbaut. Morgen mögen sie anders denken, und dann bleibt uns nichts übrig als das schwache Rohr der Selbstrechtfertigung. Die Gunst des Volks ist die Gunst des sterblichen Gemüts, und da das sterbliche Gemüt stets im Unrecht ist, dürfen wir weder seinen Tadel fürchten noch sein Lob wünschen. Ansehen und guter Ruf haben nichts gemein mit der göttlichen Gunst.
Es ist gefährlich, seine Beweggründe und Handlungen durch das beeinflussen zu lassen, was „die Leute sagen.” Wie viele Menschen sind nicht dadurch zu Feiglingen und Heuchlern geworden! In den Sprüchen Salomos lesen wir: „Tod und Leben stehet in der Zunge Gewalt; wer sie liebet, der wird von ihrer Frucht essen.” Die Furcht vor dem, was die Leute sagen werden, verursacht Befangenheit und führt zu geistiger Armut und zu Unehrlichkeit; sie hält uns fest in den Banden althergebrachter Systeme und Einrichtungen. Solange wir uns fragen, was andre Leute über uns denken, oder ob wir uns so benommen haben, daß man uns günstig beurteilt hat, halten wir uns an das eigne Ich anstatt an das Prinzip, und bewegen uns in einem Labyrinth persönlicher Suggestionen, wo das geistige Auge umnachtet ist. Jeden Blick, jedes Wort, jede Bewegung legen wir je nach unsern eignen Befürchtungen günstig oder ungünstig aus, ja nur zu oft ziehen wir den voreiligen Schluß, daß falsche Gerüchte über uns verbreitet worden seien, wenn dies durchaus nicht der Fall ist.
Angenommen, es wird eine Lüge über jemand ausgesagt, und sie findet dann ihren Weg in das allgemeine Bewußtsein. Da sie nicht wahr ist, so stellt das mentale Bild, das sich diejenigen, die die Lüge glauben, von der betreffenden Person machen, einen eingebildeten Charakter dar und nicht den wirklichen Charakter der Person. Die Wahrheit beschirmt das wahre Selbst. Eine Lüge kann es nicht ändern. Wie kann somit eine Lüge denjenigen schädigen, der die Wahrheit liebt? Eine Lüge kann uns ebensowenig vom Himmelreich fernhalten, wie sie uns hineinverhelfen kann. Warum sie also fürchten? Wollen wir überhaupt besorgt sein, so sei es um die, welche die Lüge glauben. Verleumdung und Klatsch mögen wohl Eigenliebe und Schuld zum Zittern bringen, nie aber wahres Verdienst und erhabene Beweggründe. Wer die Welt zum Freund hat, fürchtet sich vor dem Urteil der Leute; wer aber Recht tut, bleibt sowohl von guten wie von üblen Aussagen unberührt. Verleumdung kann dem Charakter, der vom Prinzip regiert wird, kein Leid zufügen. Die Schatten des eitlen Geredes zergehen vor dem hellen Schein der Demut. Sich seines wahren Wertes bewußt sein, ist das beste Hilfsmittel gegen Verleumdung. Wenn wir unsre Wege dem Herrn befehlen, so wird Er, wie der Psalmist sagt, „[unsre] Gerechtigkeit hervorbringen wie das Licht und [unser] Recht wie den Mittag.” Ein reiner Lebenswandel verteidigt sich selbst.
Das Lob der Menschen ist oft schädlicher als ihr Tadel. Nicht ob unsre Freunde gut oder unsre Feinde schlecht von uns denken, sondern was Gott von uns denkt ist die große Frage. Wenn wir uns um ein Urteil an die Wahrheit wenden, erblicken wir unsre geistige Selbstheit, die von der Welt weder gelobt noch verdammt wird, denn die Welt kennt sie nicht. Kann die wahre Idee durch Schwätzereien berührt werden? Nein. Ebensowenig wird derjenige von ihr berührt, der bestrebt ist, die wahre Idee zum Ausdruck zu bringen, und der sich selber treu bleibt.
Der fleischliche Sinn, der den Meister einen Gotteslästerer nannte, ist heute ebenso wie damals darauf bedacht, den geistigen Helden falsch darzustellen. Er verfälscht sein Wesen, kehrt seine Beweggründe um und stellt alles, was er sagt und tut, in ein falsches Licht. Des Meisters Prophezeiung lautet, daß die Welt seine Nachfolger hassen werde, wie sie ihn haßte, ohne alle Ursache. Mrs. Eddys Erfahrung ist ein Beispiel davon. Viele, die sie gar nicht kannten und ihre Lehre nicht verstanden, haßten sie. Beklagte sie sich oder übte sie Wiedervergeltung? Man höre ihre Worte: „Ein großer Mann oder eine große Frau sein, ... heißt die Hiebe der Eifersucht und der Bosheit in Geduld ertragen” (Miscellaneous Writings, S. 228). Wenn dem Wissenschafter allerlei Böses nachgesagt wird, dann lernt er, wie vor alters die Propheten, sich zu freuen und gewinnt auf diese Weise den Frieden und die Harmonie, welche die Seligpreisungen verheißen. Sein aufrichtiges Gebet lautet: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun.”
Hoch erhaben über dein eitlen Gerede der Leute wohnt in Frieden und in der Stille geistiger Betrachtung jenes Bewußtsein, das die großen Wahrheiten seines Daseins sucht. Der wissenschaftliche Christ, der vom Licht der Unendlichkeit und der Ewigkeit bestrahlt ist, hat weder die Zeit noch verspürt er das Bedürfnis, die Beweggründe zu seinen Handlungen zu rechtfertigen, oder durch persönliche Bemühungen das Urteil der Leute über ihn zu beeinflussen. Im Gegenteil, er überwindet gewissenhaft Empfindlichkeit durch Selbstlosigkeit, Groll durch Uneigennützigkeit, bis die Leute, wie „der Fürst dieser Welt,” nichts an ihm haben. So schreitet er mutig und unbeirrt vorwärts, „durch böse Gerüchte und gute Gerüchte,” und beweist, wie Salomo sagt, daß „wahrhaftiger Mund bestehet ewiglich; aber die falsche Zunge bestehet nicht lange.”