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Unsre eigne und des andern Last

Aus der August 1917-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Im sechsten Kapitel des Galaterbriefes macht der Apostel Paulus einen bedeutsamen Unterschied zwischen zwei Worten, die in der deutschen Bibel beide mit „Last” übersetzt sind. Er ermahnt sie im zweiten Vers zur Barmherzigkeit, indem er sagte: „Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.” Im fünften Vers scheint er merkwürdigerweise mit diesem Rat in Konflikt zu geraten, wenn er erklärt: „Denn ein jeglicher wird seine Last tragen.” Bei näherer Betrachtung des Urtextes schwindet aber dieser scheinbare Widerspruch, denn wir finden, daß der Verfasser an diesen Stellen zwei verschiedene Worte braucht, während in der Übersetzung nur eins dafür steht.

Das Wort, das im zweiten Vers mit „Last” übersetzt ist, heißt im Griechischen baros und bedeutet Gewicht, große Behinderung, Bedrückung, während im fünften Vers das Wort phortion steht, welches alles Tragbare bezeichnet, daher eine Fracht oder Ladung. Es wird oft beim Verladen und Verschiffen gebraucht. Es deutet nicht auf Gewicht oder Schwere, denn eine Ladung kann aus sehr leichten Gegenständen bestehen. So hören wir bisweilen von einer „wertvollen Ladung” sprechen. Diese Unterscheidung ist auch im Matthäus zu finden, wo Jesus sagt: „Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.” Hier steht für das Wort Last dasselbe Wort, das Paulus an der zweiten oben zitierten Stelle braucht, nämlich phortion, das Tragbare. Im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberge, das im zwanzigsten Kapitel des Matthäus vorkommt und wo Jesus von denen spricht, die „des Tages Last und die Hitze getragen haben,” ist das mit Last übersetzte Wort baros, Druck, Gewicht, also dasselbe, das Paulus an der ersten oben zitierten Stelle braucht.

Aus dieser Unterscheidung ersehen wir, daß es zwei Arten von Lasten gibt: eine, die wir selbst auf uns nehmen müssen, während die andre solcher Art ist, daß wir zu ihrem Tragen sehr wohl die Hilfe eines Gleichgesinnten in Anspruch nehmen oder, im umgekehrten Fall, ihm unsre Hilfe anbieten dürfen. Was ist denn nun diese Last, die jeder von uns tragen soll? Ist sie nicht die für jeden einzelnen bindende Aufgabe, zu schaffen, daß er selig werde — die Aufgabe, die wir „mit Furcht und Zittern” lösen sollen? Ein andrer kann diese Last nicht für uns tragen. Ein jeder hat die Pflicht, die göttlichen Absichten in seiner eignen, besonderen Weise zum Ausdruck zu bringen, weil Gott ihm eine besondere Arbeit bestimmt hat, die nur er vollbringen kann und für die er seine Kräfte einsetzen muß. Es ist nicht schwer zu ersehen, daß, was man bei einem andern für einen ratsamen Schritt hält, vielleicht zur Zeit seinem geistigen Fortschritt und Wohlergehen nicht förderlich wäre.

Wenn wir erkennen, daß diese Last, die wir allein zu tragen haben, darin besteht, daß wir unsre geistige Wesenheit durch die Entfaltung göttlicher Ideen im Bewußtsein und durch den praktischen Beweis unsres Einsseins mit Gott feststellen müssen, dann sehen wir auch, warum Jesus erklären konnte, seine Last sei „leicht”— leicht, weil sie ihm ungeachtet der Prüfungen auf seinem Lebenswege die Freude brachte, dem Willen des Vaters gemäß wirken zu können. Der Meister sagte: „Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folget mir nach, der ist mein nicht wert;” denn zur Ausarbeitung der eignen Erlösung gehört das Aufsichnehmen des Kreuzes, das Beharren „bis ans Ende,” trotz aller Prüfungen, Verfolgungen und Heimsuchungen, welchen diejenigen ausgesetzt sind, die es wagen, dem Bösen mit seinem Anspruch auf Gewalt und Macht entgegenzutreten. Von den stürmischen Erlebnissen derer, die tapfer für die Wahrheit einstehen, sagt unsre Führerin: „Das Gute, das du tust, wird verleumdet werden. Das ist dein Kreuz. Nimm es auf dich und trage es, denn durch dasselbe gewinnst und trägst du die Krone” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 254).

Da nun einer des andern Last tragen soll, was für Lasten sind gemeint? Sind es nicht die Bedrückungen, die Sorgen und Kümmernisse, die anscheinend die Menschheit beschweren und von denen sie sich nicht ohne barmherzige, starke Hilfe frei machen kann? Als Jesus seine Jünger aussandte, die Kranken zu heilen, die Aussätzigen zu reinigen und die Toten zu erwecken, verlangte er von ihnen, daß sie die Bürden derer tragen sollten, die unter der Last des tyrannischen Urteils des fleischlichen Gemüts zusammengebrochen waren. Vermöge ihres geistigen Verständnisses vom befreienden und erneuernden Gesetz des Lebens, des Geistes, der Wahrheit und Liebe hoben die Jünger freudig den Druck von diesen Schwerbeladenen, stärkten und ermutigten sie und trugen ihre Bürden für sie — aber nur um die völlige Nichtsheit dieser Bürden darzutun. Sie verstanden das Wesen wahrer Substanz und vermochten daher die Unwirklichkeit des Übels und der Krankheit zu erkennen und das Freisein des Menschen von diesen erschrekkenden und bedrückenden Täuschungen zu beweisen. Die Christlichen Wissenschafter sind glücklich, daß auch ihnen durch Mrs. Eddys Wiedereinführung dieses heiligen, erhabenen Werkes die Möglichkeit geboten ist, in wissenschaftlicher Weise „das Gesetz Christi [zu] erfüllen” und ihre eigne Last wie die eines andern zu tragen, indem sie des Menschen ewiges Einssein mit dem Vater, der göttlichen Liebe, demonstrieren, der Liebe, die alle ohne Ansehen der Person erhält, beschützt und leitet.

Nun fragt es sich: Wie können wir wissen, ob wir die rechte Last tragen? Da es zwei Arten von Lasten gibt, eine, die wir tragen sollen und eine, die wir nicht tragen dürfen — können wir da nicht vielleicht in der besten Absicht den Fehler begehen, die falsche Last zu tragen, wenn wir einem andern helfen wollen, Freiheit und Harmonie zu erlangen? Um diesen wichtigen Unterschied sehen zu können, ist allerdings wahre christliche Klugheit nötig. Wenn wir nicht auf der Hut sind, werden wir leicht verleitet zu glauben, daß wir einem andern helfen, wenn wir seine Last tragen, während wir doch durch richtige Überlegung zu der Einsicht gekommen wären, daß er zu seinem eignen Heil die Bürde selber tragen muß. Andrerseits kann uns Mangel an wahrem Mitgefühl der Gelegenheit gegenüber blind machen, einen andern von der drückenden Last zu befreien. Wir schenken der Einflüsterung Gehör, es sei dies seine eigne Arbeit, und lassen ihn dann ohne Schutz und Trost, wo er doch liebevoller Hilfe bedarf.

Jesus gebot seinen Jüngern, die Gefallenen aufzurichten und alle, die sich ihnen um Hilfe zuwandten, alle, die es „wert” waren, zu heilen, zu stärken und von falschen Vorstellungen zu befreien. Nur denen, die es „nicht wert” waren — worunter wir sehr wohl die Menschen verstehen können, die nicht gewillt sind, sich von falschen Göttern weltlicher Weisheit zu trennen, ihre Eigenliebe aufzugeben oder von geheimen Sünden gereinigt zu werden —, nur diesen sollten sie die heilende Wahrheit vorenthalten. Mit andern Worten, sie sollten klar erkennen lernen, was wirklich zu ihrem Werk als gewissenhafte Arbeiter im Weinberge des Vaters gehörte, und was nicht dazu gehörte. Sie sollten sich nie von denen, die in geistiger oder moralischer Beziehung zu träge waren, das Kreuz der Selbstaufopferung und des Dienstes auf sich zu nehmen, als willige Träger ihrer Lasten brauchen lassen.

Die Jünger sollten andrerseits nie eine Gelegenheit vorübergehen lassen, wirksame Hilfe zu leisten, wenn sie sich einer wirklichen Not gegenüber sahen. Der Rat, den sie einst dem Meister gaben, er möge das Volk von sich lassen, damit sie sich Speise kaufen könnten (siehe Matth. 14:15), läßt ersehen, daß sie diese Versorgung als die Aufgabe des Volkes betrachteten oder als eine Bürde, die das Volk tragen müsse. Jesus aber rügte ihren Mangel an Unterscheidungsvermögen und wies auf ihre Pflicht mit den einfachen Worten hin: „Es ist nicht not, daß sie hingehen; gebt ihr ihnen zu essen.” Diese große Menschenmenge hatte einen bestimmten und überzeugenden Beweis von ihrer Empfänglichkeit für geistige Dinge geliefert, denn nachdem Jesus auf einem Schiff von dannen gewichen, „folgete” das Volk „ihm nach zu Fuß aus den Städten;” ja sie brachten die Kranken zu ihm, damit er sie heile.

Die Jünger, denen es vergönnt war, die vervielfältigten Brote und Fische unter die Menschen zu verteilen, erhielten nicht nur die Lehre, daß man sich wegen seiner Versorgungsmittel auf Gott verlassen darf, sondern sie lernten auch besser unterscheiden, wie einer des andern Last tragen soll. Und das Volk wurde durch diesen unerwarteten herrlichen Beweis von des Vaters ewiger Fülle und liebevoller Fürsorge jedenfalls dazu angeregt, hernach selber ihre Last zu tragen, die darin bestand, durch Vertrauen auf Gott, auf die Liebe, ihre Seligkeit zu schaffen.

Bei unsrer Arbeit heutzutage, die darin besteht, in wissenschaftlicher Weise zu demonstrieren, daß „das Himmelreich ... nahe herbeikommen” ist, erkennen wir bald, daß zu dieser großen Aufgabe die weitere Aufgabe gehört, selber der Gelegenheiten zum Wachstum gewahr zu werden und andre auf dieselben hinzuweisen. Sie harrt jedes einzelnen, der mutig seiner Pflicht nachkommt — seine eigne Last trägt —, der freudig, sorgfältig und hingebungsvoll arbeitet. Dies ist eine Vorbedingung für alles Vollbringen, mag es nun sogenannter materieller oder rein metaphysischer, geistiger Art sein. Das sterbliche Gemüt ist seinem Wesen nach träge. Wohl scheint es zuweilen außerordentlich rührig zu sein; wenn man aber der Sache auf den Grund geht, so findet man gewöhnlich, daß seine Tätigkeit darin besteht, eine ihm zukommende Pflicht auf einen andern abzuschieben, oder, wenn dies nicht geht, zu versuchen, sich der mühsamen Arbeit, auf die Einzelheiten einer Sache einzugehen, zu entziehen.

Mit andern Worten, das fleischliche Gemüt sucht stets zu ernten, wo es nicht gesät hat. Daher ist es nur das gleichsam über sich selbst emporgehobene Gemüt, das wirklich gerne arbeitet, das Tätigkeit bei andern würdigt, willig seine eigne Last trägt und sich geduldig und freudig der Arbeit unterzieht, die zu einem wahren, wissenschaftlichen und geistigen Ergebnis nötig ist. Eine solche Arbeit ist keine Plackerei; im Gegenteil, sie bedeutet für den Schüler eine große Anregung und Förderung, wirkt veredelnd auf ihn und belohnt ihn für jede seiner Bemühungen mit bewußtem Fortschritt in seiner geistigen Entfaltung.

Unsre Führerin sagt in Miscellany (S. 149): „Der reichste Segen kommt durch Arbeit.” Wenn wir erkennen, wie sehr wir dadurch geistig gefördert werden, daß wir die Lösung unsrer Aufgaben durch gewissenhafte, ernste Arbeit erstreben und dabei allein auf Gottes Hilfe und Führung vertrauen, dann sehen wir auch ein, warum es nötig ist, bezüglich der Aufgaben eines andern kluge Vorsicht walten zu lassen. Wir werden dann richtig beurteilen können, welche Lasten wir für ihn tragen sollen und welche wir ihm selbst überlassen müssen. Wir würden uns nicht durch einen andern um den reichen Lohn ehrlich getaner Arbeit bringen lassen; ebensowenig sollten wir einem andern die Gelegenheit zum Fortschritt entziehen, indem wir aus Unkenntnis oder falschem Mitleid seine Arbeit für ihn tun.

Wir werden nicht weit vom rechten Weg abirren, wenn wir der Ermahnung des Apostels gemäß handeln: „Darum richtet wieder auf die lässigen Hände und die müden Kniee und tut gewisse Tritte mit euren Füßen, daß nicht jemand strauchele wie ein Lahmer, sondern vielmehr gesund werde.” Das heißt, traget die Lasten der Bedrückten, tröstet sie, indem ihr ihre Furcht und falschen Anschauungen aufhebt. Bessert euer tägliches Leben, verfolgt hohe Ideale, läutert euer Verlangen, entfernt das Selbst aus euren Beweggründen, damit ihr nicht der Versuchung nachgeht, euch wegen Hilft auf die begrenzte Persönlichkeit zu stützen, damit ihr nicht diejenigen, die metaphysische Aufklärung und Heilung suchen, von dem Wege ablenkt, auf dem sie lernen können, sich aufs Prinzip zu stützen.

Der Psalmist sagt: „Wirf dein Anliegen auf den Herrn; der wird dich versorgen.” Wenn wir die göttliche Kraft als unsre Stütze betrachten, und wenn unsre Zuversicht sich darauf gründet, daß das Gute allein wirklich und auf ewig unser Erbteil ist, so wird uns die Kraft gegeben, ruhigen Gemüts die Pflichten aufzunehmen, die zur Lösung unsrer Aufgaben gehören, im Vertrauen, daß Gott alle rechte Tätigkeit leitet und segnet. Dann nur ist unsre Last leicht; dann nur sind wir mit geistiger Kraft ausgerüstet und können die Bürden andrer tragen, indem wir den Beweis liefern, daß sie unwirklich und unwahr sind. Es wird uns aber kaum gelingen, „des andern Last” zu tragen, wenn wir nicht selbst ehrlich die unsre tragen. Werfen wir unsre Last auf den Herrn, so bleibt uns, metaphysisch gesprochen, nur noch als Last die Aufgabe, „alle Vernunft unter den Gehorsam Christi” gefangen zu nehmen.

Wenn wir danach streben, uns der Sünde zu entledigen, „so uns immer anklebt und träge macht,” und wenn wir von der Bürde der Furcht, der Entmutigung oder des Glaubens an die Wirklichkeit der Materie frei sind, so wird es uns möglich, die Lasten andrer zu tragen — sie als mentale Irrtümer zu behandeln, als gemeine Täuschungen des materiellen Sinnes, die unsre Erkenntnis vom Menschen, wie er wirklich ist, nämlich die harmonische und vollkommene Idee der göttlichen Liebe, nicht hindern können.

Auf Seite 87 von Retrospection and Introspection schreibt Mrs. Eddy: „In diesem geordneten, wissenschaftlichen Plan werden die Heiler sich selber ein Gesetz. Sie empfinden ihre eignen Lasten weniger und können daher die Lasten andrer tragen, da es ja die Sonne der Wahrheit ist, deren Strahlen durch die Linse ihrer Selbstlosigkeit scheinen und mächtig sind, den Irrtum aufzulösen.”

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