Wohl kein Gleichnis, das der Meister geredet hat, spricht so allgemein an wie das vom verlorenen Sohn, und keines ist so oft Gegenstand der Erläuterung gewesen. Es legt eine Seite der menschlichen Natur dar, die uns allen mehr oder weniger bekannt ist — eine Charakterschwäche, die bei uns eher Mitleid als Unwillen erregt, eher Bedauern als Tadel hervorruft; denn Eigenwille und Ungehorsam bedeuten nicht notwendigerweise eine lieblose Gemütsart oder einen Gedankenzustand, der List und Haß in sich faßt. Durch eine wörtliche Auslegung nun wird dieses Gleichnis nicht über die Geschichte irgendeines Jünglings emporgehoben, der seine Habe mit weltlichen Vergnügungen vergeudet. Metaphysisch aufgefaßt hat es aber, wenigstens für den Christlichen Wissenschafter, eine tiefe Bedeutung. Auf Seite 91 von Retrospection and Introspection sagt Mrs. Eddy: „Das Gleichnis vom ‚verlorenen Sohn‘ wird mit Recht ‚die Perle unter den Gleichnissen‘ genannt.” Wir können aus demselben wahrlich tiefe geistige Lehren ziehen.
Wie wir lesen, herrschte über die Rückkehr des Jünglings große Freude im väterlichen Hause. Der Vater hatte ihn liebevoll aufgenommen und ließ seine Rückkehr festlich begehen. Als der ältere Sohn vom Felde kam, sich dem Hause näherte und den Gesang und den Reigen hörte, fragte er nach der Ursache all der Fröhlichkeit. Die Mitteilung, daß die Rückkehr des jüngeren Bruders der Anlaß sei, machte ihn zornig, und er weigerte sich, ins Haus zu gehen und an dem Fest teilzunehmen. Es ist vielfach die Ansicht geäußert worden, der Vater habe die Treue des älteren Bruders nicht voll gewürdigt und sie nicht entsprechend belohnt, und der Unwille des letzteren über den Empfang des jüngeren Sohnes, der seine ganze Habe durch ein liederliches Leben vergeudet hatte, sei daher berechtigt. Handelte es sich hier nicht um eine Belohnung der Sünde, während die Tugend unbelohnt blieb?
Wir werden jedoch sehen, daß das Verhalten des Vaters anders verstanden sein will. Er würdigte vollauf die Treue seines ältesten Sohnes, auch hatte er dies jederzeit durch Liebe gegen ihn zum Ausdruck gebracht. Solches geht aus seiner Antwort auf das Murren des Sohnes hervor: „Mein Sohn, du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, das ist dein.” Es ist als ob der Vater gesagt hätte: Mein Sohn, dein Lebenlang hast du alles mit mir geteilt, was ich besitze; du hast nie die Enttäuschung und Reue erfahren, die sich als Folge eines ausschweifenden Lebens einstellt. Komm also und freue dich mit mir, daß dein jüngerer Bruder, der die Bitterkeit und das Leid eines schlechten Lebenswandels gekostet hat, zu uns zurückgekehrt ist — daß er eingesehen hat, wie töricht es ist, sich einem solchen Leben hinzugeben.
Was würde man von den neunundneunzig Schafen denken, die vor Sturm und Gefahr sicher geschützt waren, wenn sie gemurrt hätten, weil der Hirte auf die Berge ging, um das eine Schaf zu suchen, das sich verirrt hatte? Verhielt sich der ältere Bruder im Grunde anders? Undankbarkeit, Selbstbedauern und Groll hielten ihn davon ab, die Segnungen des väterlichen Hauses zu würdigen, deren er schon immer teilhaftig gewesen war.
Indem wir uns nun dem jüngeren Sohn zuwenden, sehen wir, daß er erst dann beschloß, sich aufzumachen und zu seinem Vater zu gehen, als er alles „verpraßt” hatte. Und so geht es auch heute den Sündern und Verschwendern. In den meisten Fällen müssen sie erst die sterbliche Vorstellung von Freude an materiellen Dingen und ihre Zufriedenheit mit denselben durchmachen. Sie müssen erst von vielen Ärzten viel erleiden und zu der Einsicht kommen, daß es nichts hilft, sondern vielmehr ärger mit ihnen wird — daß sie im wahren Sinn des Wortes alles ausgegeben haben —, ehe sie sich aufmachen und zu ihrem Vater gehen. In seiner äußersten Not also, als die materiellen Vorstellungen, denen er sich hingab, ihre unvermeidlichen Folgen über ihn brachten — dann, aber erst dann, nahm sich der Jüngling vor, sein Herz der Wahrheit zu öffnen, allmählich in das Bewußtsein des Guten hineinzuwachsen und die falschen materiellen Vorstellungen, durch die er so sehr getäuscht worden war, dahinten zu lassen.
Der Vater sah ihn, als er noch „ferne von dannen” war. Dies ist ein Hinweis auf die wissenschaftliche Wahrheit, daß Gott, das göttliche Gemüt, allgegenwärtig ist und mit jeder Seiner Ideen in beständiger, bewußter harmonischer Beziehung steht. Dieselbe Wahrheit liegt in den Worten des Vaters an den älteren Sohn: „Mein Sohn, du bist allezeit bei mir.” Beachten wir, daß der jüngere Sohn viel Demut zum Ausdruck brachte. Solches geht aus den Worten hervor: „Vater, ich habe gesündiget in den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße.” Dies ist ein Gedankenzustand, den wir alle erlangen müssen, wenn wir uns von der Knechtschaft des Bösen völlig frei machen wollen. Es wird uns nicht berichtet, daß sich der Vater über den zerknirschten Zustand des Sohnes äußerte, auch enthielt er sich jeglichen Urteils. In der Prophezeiung des Habakuk lesen wir, Gottes Augen seien so rein, daß Er Übels nicht sehen mag, und dem Jammer nicht zusehen kann. Für Gott sind all Seine Ideen rein und vollkommen. Und so gewahrt der geistige Sinn durch die Linse der geistigen Erkenntnis Gottes Ebenbild jenseits der sterblichen Scheinbarkeit. Der Befehl, das beste Kleid hervorzubringen und es ihm anzutun, ist nicht nur dahin zu verstehen, daß der Vater die Vollkommenheit und Sündlosigkeit des Menschen als Gottes Idee erkannte, sondern er bedeutet auch, daß dieser von seinen Hausgenossen verlangte, den Reumütigen nur so zu sehen.
Wir sind „des Glaubens Genossen,” und der Befehl lautet auch an uns, dem Bruder „das beste Kleid” anzuziehen. Wenn wir diesem Befehl gehorchen, werden wir niemals gegen unsern Bruder falsch Zeugnis reden, niemals von ihm denken, er sei gefallen, krank oder sündhaft. Wir werden uns jederzeit und unter allen Umständen in bezug auf ihn der Wahrheit bewußt zu werden suchen, daß er in Wirklichkeit das Bild und Gleichnis Gottes ist, eine Idee des einen unendlichen Gemüts, und daß er als solche nicht zum Werkzeug oder Ausdrucksmittel von Disharmonie irgendwelcher Art werden kann, sondern in Wahrheit Gesundheit, Harmonie und Unsterblichkeit zum Ausdruck bringt.
Vom älteren Bruder lesen wir, daß er „im Feld” war. Sein Bewußtsein hatte sich noch nicht über die sterbliche Vorstellung von der Schöpfung als etwas Materiellem und vom Menschen als einem sündigen Wesen erhoben. Daher glaubte er, das Übel sei ein Teil der menschlichen Persönlichkeit, und er hielt somit seinen jüngeren Bruder für den Sünder, als den dieser sich bekannt hatte. Hier sehen wir die große Versuchung, der die älteren Brüder unsrer Tage leicht zum Opfer fallen, nämlich die, das Böse als zur Persönlichkeit des Menschen gehörend anzusehen und es auf dieser Grundlage bekämpfen zu wollen. Die mächtigste Waffe, die das Übel handhabt, ist seine scheinbare Fähigkeit, die Menschheit glauben zu machen, daß Sünde oder Krankheit den Menschen als ein Teil ihrer selbst angehöre. Wie Mrs. Eddy in ihren Werken immer wieder erklärt, ist es unmöglich, das Böse zu vernichten, wenn man es in diesem Lichte betrachtet. Wir müssen unsern Bruder vom Übel getrennt sehen, denn da es im göttlichen Gemüt, in Gott, kein übel gibt, so kann es auch in dem, was das göttliche Gemüt zum Ausdruck bringt, kein Übel geben. Der Vater in dem Gleichnis erkannte, daß das Böse kein Teil von Gottes Schöpfung ist, und er wußte somit, daß es nicht zu seinem Sohn gehörte, und durch die Erkenntnis dieser Wahrheit wurde der leichtsinnige, pflichtvergessene Sohn geheilt; „denn,” so heißt es in dem Gleichnis, „dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig worden; er war verloren und ist gefunden worden.” Und die Demonstration, dessen können wir sicher sein, war gründlich und vollkommen.
Diese bekannte biblische Geschichte, die in ihrer Einfachheit ein genaues Bild von der menschlichen Natur gibt, weist mit staunenswerter Klarheit auf den Weg, den ein jeder gehen muß, um schließlich von Sünde und Sterblichkeit erlöst zu werden. Und was noch herrlicher ist, sie beweist, daß Heilung nicht ausbleiben und Erlösung sicher erlangt werden kann, wenn die Wahrheit, das Wort Gottes, verstanden und getreulich angewandt wird. Durch alle ihr zu Gebote stehenden Mittel bringt die Christliche Wissenschaft dem menschlichen Bewußtsein die große Wahrheit nahe, daß der Mensch als Gottes Idee geistig, rein, vollkommen und unsterblich ist; und wenn dieser Gedanke in unserm Bewußtsein Wurzel faßt, erkennen wir allmählich mit Augen, die die Wirklichkeit sehen, die Größe und Erhabenheit jener liebevollen Versicherung: „Mein Sohn, du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, das ist dein.”
