Die Christliche Wissenschaft weicht darin von den anderen Religionen ab, daß sie von ihren Anhängern Beweise fordert für die Wirkungsfähigkeit der Wahrheit, die sie lehrt. Sie verlangt nicht die Annahme eines Dogmas, sondern das Verständnis vom Prinzip, nicht bloß ein Glaubensbekenntnis, sondern Demonstration. Wie wahr auch an und für sich eine Lehre sein mag, so kann sie doch dem einzelnen wenig nützen, wenn er sich nicht bemüht, ihre Brauchbarkeit zu erproben. Der Christliche Wissenschafter, der bestrebt ist, solche Demonstrationen zu machen, sieht sich dabei zuweilen sogenannten Mißerfolgen gegenüber; trotzdem aber handelt es sich in solchen Fällen oft weniger um Mißerfolge, als derjenige annehmen mag, der selbst niemals Anstrengungen gemacht hat. Und kein Fehlschlag ist so unverzeihlich wie die Unterlassung eines ernsten Versuches. Jesu Lehren muß man durch geistige Erkenntnis in sich aufnehmen; nur dadurch kann man die Wahrheit seiner Worte durch Taten demonstrieren. Diese Erkenntnis muß sich dem sterblichen Gemüt allmählich entfalten, denn dem Ausspruch Jesajas zufolge „kommt Gebot auf Gebot, Gebot auf Gebot; Verbot auf Verbot, Verbot auf Verbot; da ein wenig und dort ein wenig.“ (Zürcher Bibel.) Bis also das Denken ganz und gar vergeistigt ist, wird unser Glaube zwischen Erkenntnis und Annahme, zwischen Erfolg und Mißerfolg hin und her schwanken.
Als Jesus von Nazareth vor Pilatus stand und die Worte sprach: „Ich bin dazu geboren und in die Welt kommen, daß ich für die Wahrheit zeugen soll,“ stellte ihm Pilatus die Frage, die durch all die Jahrhunderte zu uns herübertönt: „Was ist Wahrheit?“ Aber es wird uns nicht berichtet, daß Jesus hierauf geantwortet hätte. Drei Jahre lang hatte er diese Frage täglich beantwortet. Seit dem ersten Tage nach seiner Versuchung in der Wüste, wo er den Kampf zwischen Fleisch und Geist auskämpfte, der mit dem entscheidenden Siege des Geistes endete, hatte er den Menschen die großen metaphysischen Tatsachen verkündigt und bewiesen, die er zunächst für sich selbst erprobt hatte. Er hatte in der Tat für die Wahrheit gezeugt. Jetzt war er im Begriff, seine irdische Laufbahn mit dem größten aller Siege zu krönen. Er sollte die große Tatsache beweisen, daß der Mensch als Gottes Ebenbild eins mit Gott ist, untrennbar von Ihm, wie das Prinzip von der Idee, wie das Gemüt von seiner Offenbarwerdung untrennbar ist. Trotzdem gab es in jener Stunde seines größten Triumphes scheinheilige Spötter und anmaßende Materialisten, die zweifellos die drei Jahre seines heiligen Wirkens einen ausgesprochenen Mißerfolg nannten. Diejenigen jedoch, die geistig genug gesinnt waren, um den auferstandenen Christus wahrzunehmen, wußten, daß sein Leben kein Fehlschlag gewesen war; und wer zu irgendeiner Zeit sein Erscheinen wahrnimmt, der weiß, daß die göttliche Wissenschaft damals nicht versagte, daß sie niemals versagt hat und niemals versagen wird.
Die vier Evangelien sind reich an großen Wahrheiten, die Jesus ausgesprochen hat. Es sind Worte von solch herrlicher geistiger Bedeutung, daß die Christenheit sie beiseite legte, weil sie sie für fast zu wunderbar hielt, um verstanden zu werden. Zum Beweis der Wahrheit seiner Worte vollbrachte der Meister viele große Taten, an die die Menschheit vorgab zu glauben, deren Wiederholung sie aber für unmöglich hielt. Die Sterblichen haben seit Jahrhunderten vergebens versucht, die Frage, auf welche Jesus nichts erwiderte, mit Worten, Glaubensbekenntnissen und Dogmen zu beantworten. Es blieb Mrs. Eddy, der Entdeckerin und Begründerin der Christlichen Wissenschaft, vorbehalten, die Welt aus ihrem langen Schlafe zu erwecken. Auf Seite viii in dem Vorwort zu Wissenschaft und Gesundheit schreibt sie: „Die Frage, was ist Wahrheit, wird durch Demonstration beantwortet — durch das Heilen von Krankheit, wie von Sünde.“ Mrs. Eddy macht also einen deutlichen Unterschied zwischen der Christlichen Wissenschaft und einer bloß passiven Religionslehre, und sie legt dar, daß die Christliche Wissenschaft die wahre Lehre ist, weil sie durch Demonstration bewiesen werden kann; denn die Mission der Christlichen Wissenschaft und das Hauptbestreben der Christlichen Wissenschafter besteht darin, sowohl Krankheit als Sünde zu heilen. Wenn sich beim Streben nach diesen Demonstrationen menschliche Vorstellungen von Mißerfolgen einstellen, so erschüttert das keineswegs den Glauben des Schülers an die Unumschränktheit der Christlichen Wissenschaft, noch raubt es ihm den Mut, mit der Demonstration fortzufahren; denn wie darf einer, der nie den Versuch gemacht hat, von Mißerfolg reden?
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