Ein Mann, der einem anderen ausführlich das Rudern eines Bootes erklärt hatte, machte den vergeblichen Versuch, seine Theorie in die Praxis umzusetzen. Die Zuschauer sagten, er verstehe wohl die Philosophie des Ruderns, aber seine Anstrengungen seien sehr unwissenschaftlich. Wiewohl nun dieses Ereignis im allgemeinen sehr wenig mit philosophischem Denken zu tun hat, so veranschaulicht es doch, wie grundverschieden Philosophie und Wissenschaft sind. Die Philosophie ist ein Gedankensystem, das gerechtfertigt zu sein scheint, weil es vernunftgemäß ist, während die Wissenschaft fordert, daß die Vernunftschlüsse durch praktische Anwendung greifbar dargestellt werden. Die Philosophie weist auf Wege hin, die möglicherweise zu Tatsachen führen können; die Wissenschaft zeigt uns den rechten Weg durch Demonstration.
Mrs. Eddy schreibt wie folgt in ihrem herrlichen Aufsatz „Wissenschaft und Philosophie,“ der auf Seite 359 ihres Werkes „Miscellaneous Writings“ anfängt: „Die Christliche Wissenschaft widerlegt alles, was nicht ein Postulat des göttlichen Prinzips, Gottes, ist. Sie ist die Seele der göttlichen Philosophie, und es gibt keine andere Philosophie. Sie ist kein Suchen nach Weisheit, sondern sie ist die Weisheit selber; sie ist Gottes rechte Hand, die das Weltall hält — Zeit, Raum, Unsterblichkeit, Gedanken, Ausdehnung, Ursache und Wirkung; sie ist das, was alle Identität und Individualität, alles Gesetz und alle Kraft ausmacht und regiert“ (S. 364).
Die grundlegenden materiellen Wissenschaften beruhen auf experimentalen Bestätigungen. Ist eine solche Bestätigung unmöglich, dann ist die Schlußfolgerung eher eine von den Merkmalen der Philosophie als der Wissenschaft. Der Beweis bestätigt die Schlußfolgerung und macht aus der philosophischen Ableitung eine wissenschaftliche Tatsache. Als sich das Studium materieller Phänomene hauptsächlich mit der Beobachtung und Erklärung physischer Wirkungen beschäftigte, nannte man es Naturphilosophie; später, aber, als die Ableitungen dieses Studiums genauen mathematischen und experimentalen Beweisen unterworfen und dessen Gesetze hierdurch festgestellt wurden, entstand infolge der geoffenbarten genauen Kenntnis die sogenannte Physik. Für diejenigen, die heutzutage Physik studieren, um die Wirkung gewisser materieller Phänomene im allgemeinen festzustellen, bedeutet dieses Fach noch immer eine Philosophie; aber für diejenigen, die sie zur Lösung von Problemen verwerten, entweder um allgemeine Eigenschaften festzustellen, oder um numerische Resultate zu erzielen, ist die Physik nicht nur eine Philosophie, sondern ein Zweig der Wissenschaft. Der Unterschied zwischen Wissenschaft und Philosophie ist somit deutlich gegeben. Um zu den Wissenschaften zu gehören, muß sich ein Gedankensystem dadurch auszeichnen, daß es zur Lösung von Problemen angewandt werden kann. Die Lösung von Problemen, im weitesten Sinne, umfaßt das Inberührungkommen mit allerart Zuständen auf den verschiedensten Gebieten menschlicher Tätigkeit.
Mrs. Eddy erklärt in ihrem Werke „Rudimental Divine Science“ (S. 1) die Christliche Wissenschaft als „das Gesetz Gottes, das Gesetz des Guten, welches das göttliche Prinzip und die Regel allumfassender Harmonie auslegt und demonstriert.“ Das Wort Auslegen bezieht sich hier auf die Philosophie dieser Wissenschaft, die in dem Lehrbuche „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ von der gleichen Verfasserin dargelegt ist. Für den Gedanken, der materielle Phänomene zur Grundlage von Leben und Erfahrungen macht, mag diese Philosophie unnatürlich und radikal erscheinen; aber für den Gedanken, der die Tatsachen des Geistes als Grundlage des Seins betrachtet, ist sie natürlich und wesentlich. Wer jedoch die Christliche Wissenschaft nur als Philosophie studiert, kennt nicht ihre wahre Kraft, denn die Kraft der Christlichen Wissenschaft tritt nur in der Demonstration zu Tage, wenn ihr Prinzip auf menschliche Probleme angewandt wird, um da Harmonie herbeizuführen, wo einst scheinbare Disharmonie bestand. Da die Christliche Wissenschaft ein Gedankensystem ist, das infolge seiner Anwendbarkeit bei der Lösung von Problemen von großer Bedeutung ist, so ist sie nicht als Philosophie, sondern als Wissenschaft zu klassifizieren.
Gelegentlich wird die Christliche Wissenschaft in philosophischen Kursen an Universitäten und Hochschulen mit zur Philosophie gerechnet. Diese Einteilung bedeutet natürlich ein Zugeständnis seitens der Professoren und Schüler, daß sie den Gegenstand nur von außen betrachten, wie es für die Philosophie charakteristisch ist. Für diejenigen, die die Christliche Wissenschaft betätigen, sie zum Heilen von unharmonischen Zuständen benutzen, ist sie mehr als ein Gedankensystem, das durch bloße Betrachtung Freude verspricht. Sie ist eine Darlegung von Tatsachen, die durch Demonstrationen bewiesen worden sind. Sie ist Wissenschaft; und weil sie die demonstrierbare Erkenntnis Gottes, des Prinzips alles Lebens und Seins ist, so ist sie wahre Religion.
Paulus sagt: „Der Buchstabe tötet, aber der Geist machet lebendig.“ Die Philosophie kann als der Buchstabe und die Wissenschaft als der Geist bezeichnet werden. Der Buchstabe theoretischer Lehre tötet, wenn er nicht mit dem lebendigen Beispiel des ihm zu Grunde liegenden Geistes verbunden ist, der neu beseelt. Gewöhnlich ergeht der erste Ruf der Wahrheit an den Alltagsmenschen durch ein greifbares Beispiel, eine wissenschaftliche Demonstration. Nachdem er die Wirkung der Wahrheit und den großen Nutzen gesehen hat, den sie ihm bringt, fühlt er sich veranlaßt, sie selbst zu suchen und sich zunutze zu machen. In dem Maße, wie er die Christliche Wissenschaft praktisch anwendet, in dem Maße, wie sie einen Teil seiner Erfahrung, seines Lebens ausmacht, schätzt und versteht er ihre philosophische Erklärung. Als Jesus einst von den Jüngern des Johannes hinsichtlich seiner Mission gefragt wurde, gab er ihnen keine philosophische Auseinandersetzung, sondern er wies auf experimentale Beweise, auf seine Werke hin. Diese Werke werden heute in der Christlichen Wissenschaft vollbracht. Sie zeigen und beweisen, welche von all den philosophischen Erklärungen des Lebens die richtige ist. Indem so die richtige Erklärung durch genaue Beweise festgestellt worden ist, wird sie zur Wissenschaft des Seins und steht jedem zur Verfügung, der die Regeln gewissenhaft anwenden will, um da Gesundheit und Harmonie herbeizuführen, wo einst unharmonische Zustände vorzuherrschen schienen.
Wenn bis jetzt verschiedenes in der Christlichen Wissenschaft noch nicht durch menschliche Philosophie erklärt werden kann, so sollte uns das nicht beunruhigen. In allen materiellen Wissenschaften gibt es noch vieles, was der philosophischen Erklärung entbehrt. Man darf nicht vergessen, daß sich die Philosophie größtenteils damit beschäftigt, Erklärungen für wissenschaftliche Entdeckungen zu finden. Unter den wissenschaftlichen Tatsachen sei hier das Gesetz der Schwerkraft genannt. Wiewohl viele Hypothesen über die Schwerkraft aufgestellt worden sind, so hat man doch noch keine Erklärung für sie gefunden. Dennoch aber lassen sich die Sterblichen nicht davon abhalten, die Schwerkraft zu benutzen, so oft es vorteilhaft ist. Das beständige Anwenden einer wissenschaftlichen Tatsache unter verschiedenen Umständen bringt deren Erklärung näher. Viele wunderbare Wirkungen materieller Phänomene sind schon auf diese Weise enthüllt worden. Es ist zweifellos wahr, daß, wenn man in einer Wissenschaft lebt und arbeitet und somit von ihrem Geiste durchdrungen ist, einem schließlich Erklärungen von Wahrheiten aufdämmern, die man vorher sehr wenig verstand.
Mrs, Eddy hatte während jahrelanger Krankheit den Quell des Lebens vergebens gesucht. Die scheinbar schönen philosophischen Systeme, die sie in ihren jungen Jahren erforschte, konnte sie nicht durch Demonstration begründen — sie waren unwissenschaftlich. Schließlich, als die Not groß war, erreichte sie nach langem Suchen das Ziel; sie gewahrte die genaue Wirkung der Lebensregel in der biblischen Aufzeichnung von einer Heilung Jesu. Indem sie nun diese Erfahrung auf sich selbst anwandte, wurde sie augenblicklich geheilt, und dadurch, daß sie in der Wissenschaft lebte, die ihr strebsamer Sinn wahrnahm, wurde sie zur Wahrheit geführt. Sie erkannte die Wahrheit an ihren Früchten, am Heilen der Kranken und Umwandeln der Sünder. Diese „Zeichen“ bewiesen ihr, daß sie die Wahrheit des Seins erfaßt hatte. Darum sagt sie auf Seite 329 von Wissenschaft und Gesundheit: „In der Wissenschaft können wir nur das anwenden, was wir verstehen. Wir müssen unsern Glauben durch Demonstration beweisen.“ Da ihre Entdeckung sich durch biblische Proben als wahr erwiesen hatte, übergab sie dieselbe der Welt in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift.“
Seit dieser Entdeckung und auf Grund derselben erkennen Tausende den Weg, der zur Reinheit, Kraft und Freiheit führt, und machen in dem Maße Fortschritte, wie sie die ihnen geoffenbarte Wahrheit gewissenhaft in ihrem Leben betätigen. Sie stehen auf einer Grundlage, die keine philosophischen Argumente erschüttern können, denn diese ist in allen Lebenslagen durch die strengsten Proben befestigt worden. Mag auch die Christliche Wissenschaft denen, die sie nur vom menschlichen Standpunkte aus betrachten, als Philosophie erscheinen, so ist sie doch in weit höherem Maße für diejenigen, die durch ihren neubelebenden Geist angespornt werden und die sich von der offenbarten Wahrheit regieren lassen, eine Wissenschaft, ja die alleinige, die hehre Wissenschaft.
