Nichts ist unfraglicher, als daß unsere Gedanken in bezug auf die Möglichkeit und Natürlichkeit der göttlichen Erleuchtung den täglichen Ernst bestimmen, mit dem wir nach dieser Erleuchtung trachten, sowie auch unsere Freude darüber, daß sie uns in jeder Notlage zu Gebote steht. Wer da glaubt, die Erleuchtung der alten Propheten, insbesondere dessen, der größer war denn alle Propheten, sei nur für die Einzigartigen, für die besonders Begabten bestimmt, und nur einige Auserwählte könnten sie erlangen — wer das glaubt, wird keinen starken Antrieb verspüren, diese weisheitverleihende Erfahrung zu gewinnen. Weil er sich seines großen Anrechtes in Christo nicht bewußt geworden ist, erwartet er nicht, ein Werkzeug zur Offenbarung der Wahrheit zu werden und macht keine dahinzielenden Anstrengungen.
Die Christlichen Wissenschafter werden oft von anderen Christen der Vermessenheit beschuldigt, weil sie danach trachten, die Werke des Meisters zu tun, und weil sie behaupten, auch wir könnten dazu inspiriert werden, das Wort der Wahrheit wirkungsvoll zu reden. Die Erklärung, es sei dies das Vorrecht eines jeden Menschen, ist sogar eine Gotteslästerung genannt und als solche verdammt worden, trotzdem Christus Jesus diese Werke seinen Nachfolgern aufgetragen hat. Daß solche Werke nicht allgemein getan werden, läßt deutlicher als irgendetwas anderes erkennen, wie weit sich die modernen Religionssysteme von dem Glauben und den Ausübungen der Urkirche entfernt haben.
Obgleich christliche Religionslehrer im großen und ganzen behauptet haben, daß das Gebet heilsam wirke, daß es auf eine unerklärliche Weise den Menschen bessere, für den man betet, so wirkt es doch Aufsehen erregend, wenn die Christlichen Wissenschafter mit Bestimmtheit für die Heilung von Krankheit und Sünde durch die geistige Erkenntnis der göttlichen Wahrheit eintreten. Und doch ist es gewiß Tatsache, daß Gleiches Gleiches hervorbringt und daß zwischen dem Geist und jedem Grade der Geistigkeit ein Verhältnis des Einsseins bestehen muß. Diese Tatsache macht folgenden Ausspruch des Paulus möglich und wahr: „Gott, der da hieß das Licht aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsre Herzen gegeben, daß durch uns entstünde die Erleuchtung von der Erkenntnis der Klarheit Gottes in dem Angesichte Jesu Christi.“ In „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ (S. 136) schreibt Mrs. Eddy: „Die Jünger verstanden ihren Meister besser als andre; aber sie begriffen nicht alles, was er sagte und tat, sonst würden sie ihn nicht so häufig gefragt haben.“ Die Tatsache, daß die Jünger ausgesandt wurden, um zu predigen und zu heilen, ehe ihre geistige Entwicklung vollkommen war — besonders die des Petrus —, weist darauf hin, daß man die Inspiration des Bewußtseins lange ehe man Vollkommenheit erreicht hat erlangen kann, daß die Sonne der geistigen Erleuchtung allmählich aufgeht, so daß wir schon jetzt zu der Erkenntnis gelangen können, daß wir Gottes Kinder sind, wie Johannes unerschrocken erklärte.
Auf Seite 107–110 von Wissenschaft und Gesundheit legt Mrs. Eddy ausführlich dar, wie sie durch die allmähliche Entfaltung der Wahrheit im Bewußtsein, durch diese Erziehungsmethode, welche „göttliche Offenbarung, Vernunft und Demonstration“ umfaßte, zu „absoluten Schlüssen“ gelangte, zu der „himmlischen Überzeugung,“ die stets die Grundlage und die Triebfeder des unwandelbaren Glaubens ist. Sie erzählt, wie sie in den langen Jahren ihrer Arbeit zur Verbreitung der Christlichen Wissenschaft trotz unzähliger Hindernisse nie den Mut und die Hoffnung verlor. Freimütig und voller Begeisterung sagt sie, durch die „Führungen der wissenschaftlichen Offenbarung“ sei ihr die Bibel erleuchtet worden und sie habe die geistige Erkenntnis der göttlichen Wahrheit erlangt, die die Probe bestand und sich als wahr erwies. Obgleich ihre Erfahrung ungewöhnlich war, hielt sie sie doch nicht in dem Sinne für ungewöhnlich, daß sie für einen anderen, dessen Gedanken in gleichem Maße strebsam und vorbereitet sind, unmöglich wäre. Es handelte sich bei ihr einfach um ein seltenes Erfassen einer Gelegenheit, die einem jeden offensteht. Alle sollen „unserm Gott zu Königen und Priestern gemacht“ werden, wie Johannes schreibt. Inspiration findet dann statt, wenn man sich Gott naht, mit anderen Worten, wenn man sich von der Welt trennt und beharrlich und ehrlich bemüht ist, „gefangen“ zu nehmen „alle Vernunft unter den Gehorsam Christi.“ Sich dem Dienste Gottes weihen heißt, von Gott berufen sein. Diese Wahrheit kommt in der allgemeinen Einladung der Wahrheit zum Ausdruck: „Kommet her zum Wasser.“ Man folgt dieser Einladung dadurch, daß man dem göttlichen Gesetz gehorcht, und dieser Gehorsam bildet das wahre Wesen des Gebets. In dem Maße wie wir Gott erkennen lernen, macht Er Gebrauch von uns.
Allgemein gesprochen, richten sich unsere Vollbringungen stets nach der Ausdehnung unseres Gesichtskreises, und in dieser Tatsache liegt die große Freude, die wir dann verspüren, wenn wir zwischen dem Menschen und dem materiellen Sinn unterscheiden gelernt haben — wenn uns das ewige Einssein des Prinzips und seiner Idee klar geworden ist. Auf diese Weise wird die Natürlichkeit des Erscheinens der Weisheit und Macht Gottes in seinem Sohn und die entsprechende Erleuchtung des menschlichen Bewußtseins klar. Man erkennt dann die tiefe Einsicht der Weisen und Seher als die Wirkung eines Gesetzes, das sich alle zunutze machen können. Man erlangt einen ganz neuen Begriff von dem Umfang des Christus-Lebens und fängt an, des Meisters Worte zu verstehen: „Mir ist gegeben alle Gewalt,“ und: „Alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel los sein.“ Geistiger Innenblick, Empfänglichkeit für göttliche Eindrücke bildet das Wesen der Geistigkeit. Ein solcher Innenblick läßt die Tätigkeit „des höheren Instinktes,“ „der göttlichen Fähigkeit des Schauens“ erkennen, um mit Wordsworth zu reden. Er bedeutet die unmittelbare Erkenntnis der Wahrheit; er ist
Der Lichtquell aller unsrer Tage,
Das Urlicht alles unsres Sehens.
Wir hören die Stimme, die uns ohne Worte oder andere vermittelnde Symbole Ideen mitteilen kann.
Die Fähigkeit, Gott zu verstehen, ein Durchscheinbild für die Offenbarung der Wahrheit und Liebe zu werden, wird im allgemeinen nicht als etwas erkannt, was man pflegen und entwickeln kann. Und doch ist diese Fähigkeit erlernbar und ausübbar, wie Mrs. Eddy in der Darlegung ihres eigenen Wachstums in der geistigen Erkenntnis deutlich ersehen läßt (Wissenschaft und Gesundheit, Vorw., S. ix). Aufmerksamer Gehorsam gegen die Anforderungen der Wahrheit, insoweit wir diese Anforderungen erfaßt haben, das Wohnen „im Hause des Herrn“ und die Betrachtungen in Seinem „Tempel,“ wie der Psalmist sich im 27. Psalm ausdrückt — dies alles kann nur dazu beitragen, scheinbar schlafende geistige Naturen zu erwecken und uns mehr empfänglich für die Wahrheit zu machen, mehr tauglich im Dienste Gottes, des Quells aller Offenbarung.
Dies ist gewiß eine „endgültige Offenbarung“ (Wissenschaft und Gesundheit, S. 107); es ist die höhere individuelle Demonstration der Wahrheit, welche das Maß „des vollkommenen Alters Christi“ bildet. Es is die Erfahrung, in welcher Offenbarung im Verein mit Vernunft den „Getreuen" eine unanfechtbare und durchaus befriedigende Gotteserkenntnis verleiht. Wahres Streben hat den Zweck, dem individuellen Menschen die Gottheit zu offenbaren; es erklärt die Begeisterung, die den Paulus ausrufen ließ: „Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, Christus.“ Wir wollen somit nicht treulos sein, sondern frohen Herzens glauben.