Der Psalmist kleidet sein Sehnen in die poetische Bildersprache des Orients ein, drückt aber eine allgemeine menschliche Regung aus, wenn er ausruft: „O hätte ich Flügel wie Tauben, daß ich flöge und wo bliebe!“ Gewiß gibt es frühere und frohere Stimmungen des menschlichen Gemüts, in denen man sich nichts besseres wünscht, als auf den „Fittichen des Windes“ zu neuen Abenteuern getragen zu werden. Aber die Elemente des Wechsels und des Verfalles in der menschlichen Annahme lassen schließlich jede menschliche Erfahrung in dem Gefühl enden, daß etwas fehlt. Das Aufschieben des Glücks kann jedoch dazu führen, daß man das menschliche Sehnen nach etwas Befriedigendem in der Materie in das stärkere Verlangen umwandelt, der ganzen düsteren Enttäuschung zu entfliehen und Frieden zu finden. Wiewohl dieses Unbefriedigtsein in der Materie an und für sich unwirklich und unharmonisch ist, so weist es doch hin auf eine rechtmäßige und wirkliche Anziehungskraft des Geistigen und Beständigen; und wenn man dieser Anziehung folgt, kann die menschliche Sehnsucht sich wahrlich über das Sterbliche und Enttäuschende zur geistigen Fülle und Gewißheit erheben.
Beim ersten Erwachen der Erkenntnis hält man jedoch gar leicht eine einzelne Demonstration der geistigen Kraft für ein Anzeichen, daß man ausgewachsene geistige Flügel erhalten habe und alle irdischen Plagen sofort zurücklassen und geistige Höhen erreichen könne. Auf diese verfrühte Begeisterung folgt dann fast ohne Ausnahme ein Sturz erdwärts, worauf man sich wohl erstaunt und traurig fragt, ob die Christliche Wissenschaft wirklich so befreiend wirke, wie in Aussicht gestellt worden war. Für den, der sofort im Geiste einen hohen Flug zu tun gedachte, ist es natürlich sehr überraschend, daß er zunächst im Geiste wandeln muß. Er muß einsehen lernen, daß geistige Fittiche nicht vergeistigte materielle Flügel sind, auf denen man sich über die Dinge der Erde erheben kann, ohne zuvor die Annahme von der Wirklichkeit der Materie überwunden zu haben. Ein Mensch kann sich nicht an materielle Begriffe anklammern, wenn es ihm darum zu tun ist, sich über deren böse Wirkungen zu erheben. Die vielerlei Zustände, die das menschliche Dasein ausmachen, sind alle materiell erdacht worden, und man muß daher diese falschen Auffassungen eine nach der anderen umkehren und die göttliche Wirklichkeit geistig wahrnehmen. Dann bewahrheiten sich Mrs. Eddys Worte in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ (S. 261): „Wenn du deinen Blick auf die höheren Wirklichkeiten heftest, wirst du dich zu dem geistigen Bewußtsein des Seins erheben, wie der Vogel, der aus dem Ei gekrochen ist und sich die Flügel putzt zu seinem Fluge himmelwärts.“
In dem Kreis unserer Erfahrungen muß alles hinsichtlich seiner Wirklichkeit als eine Idee im göttlichen Prinzip abgeschätzt werden. Daher geht dem geistigen Flug, vom menschlichen Standpunkt aus betrachtet, notwendigerweise eine Vorbereitungszeit voraus, eine Zeit, in der man viele irdische Erfahrungen durchleben muß, anstatt vor ihnen zu fliehen. Man muß jedoch mitten im Materiellen aus seinem Wahn gerissen werden. Man muß die Unwirklichkeit alles Materiellen wirklich verstehen, ehe man sich zur Erkenntnis der übersinnlichen Tatsächlichkeit des Seins aufschwingen kann. Geistige Wirklichkeiten können nicht in die engen Grenzen materieller Begriffe hineingezogen noch durch bloßes Glauben an das Prinzip begriffen werden. Man muß das Prinzip verstehen, denn nur durch geistige Erkenntnis und die Anwendung dieser Erkenntnis auf falsche Annahmen wird das menschliche Bewußtsein befreit und auf den „Flug himmelwärts“ vorbereitet.
Diese menschliche Vorbereitung auf geistige Erhebung macht in manchen Fällen lange Lektionen in geduldigem Worten gegenüber einer undurchdringlichen und unabänderlichen materiellen Annahme nötig. Wenn man aber in den Tagen des Wartens seiner bereits erlangten Erkenntnis vom Prinzip gemäß lebt, wird die Wahrheit sicherlich schließlich die materielle Annahme auflösen und das Bewußtsein zu der ersehnten Freiheit erheben.
Andere müssen vielleicht einen lieben Kreis, Verwandte und Heimat verlassen, wie seinerzeit Abraham. Beim geistigen Fortschritt werden jedoch alte Bande niemals gelöst, ehe man stark genug ist, nach der Trennung fest stehen und die wahreren Bande der geistigen Liebe würdigen zu können. Noch nie ist jemand in eine Wüste gelangt, ohne daß ihn ein bestimmter Zweck und die Fürsorge der unendlichen Liebe dort erwartet hätten, um ihn zum Sieg über die Ansprüche des Bösen und zum Schritt über dieselben hinaus zu inspirieren. Dieses Sichloslösen vom Alten ist ohne Ausnahme die erste Erfahrung derer gewesen, die zu den lichten Höhen geistiger Erkenntnis emporgestiegen sind. Auf diesen Punkt im menschlichen Fortschritt weist Mrs. Eddy hin, wenn sie auf Seite 57 von Wissenschaft und Gesundheit sagt: „Die winterlichen Stürme der Erde mögen wohl die Blumen der menschlichen Liebe entwurzeln und sie in alle Winde zerstreuen; doch diese Trennung fleischlicher Bande dient dazu, den Gedanken inniger mit Gott zu verbinden, denn Liebe steht dem Kämpfenden Herzen bei, bis es aufhört über die Welt zu seufzen und anfängt seine Schwingen himmelwärts zu entfalten.“
Das menschliche Gemüt ist über seine eigenen Annahmen unzufrieden, sehnt sich daher nach etwas Besserem und nennt dies seine Rechte, noch ehe es weiß, was diese Rechte bedingen, noch ehe es sich über die Verantwortung klar ist, die den Besitz derselben begleitet. So hat sich z. B. die eine Hälfte der Welt in ihrem Sehnen nach den Rechten der Frau die Herrlichkeit des tausendjährigen Reichs ausgemalt, frei von aller lästigen Knechtschaft. Diese Freiheit ist uns weit näher gerückt, verursacht aber bei vielen Frauen ein unerklärliches Gefühl des Leidens. Die Störung der alten Gewohnheiten des Schweigens und der Schüchternheit, welche den Frauen seit Generationen im abgeschlossenen Familienleben anerzogen worden waren, mag vorderhand zu nichts anderem führen als zu dem gefürchteten Zusammentreffen mit den stärkeren Elementen der Welt. Der natürliche Hang zum Luxus und Müßiggang fühlt sich unbehaglich unter dem Zwang der Routine. Unschlüssigkeit gegenüber der Frage, ob man die Annehmlichkeiten eines verfeinerten Lebens gegen das rauhere Geschäftsleben austauschen solle, hat manche, denen das Verständnis für das kommende neue Zeitalter aufgeht, dazu veranlaßt, mit eigentümlichem Zögern auf der Schwelle dieser unbekannten Erfahrung stehen zu bleiben. Dieser Schüchternheit und diesem Widerstreben liegt jedoch in Wirklichkeit nichts anderes zugrunde als die fundamentale Trägheit der Materialität, die die Sterblichen für immer an die Erde zu fesseln sucht. Das Sprengen alter Bande wird diese geistige Wahrnehmung der wirklichen Freiheit, mag sie auch zunächst noch nicht flügge sein, dazu zwingen, ihre Flügel auszubreiten, und diese werden dann durch Übung die nötige Kraft zu höherem und dauernderem Flug erhalten. Ist die geistige Idee einmal wahrhaft erkannt worden, so kann sie nicht wieder in Furcht untergehen noch vom Haß überwunden werden, denn in der Vision in der Offenbarung des Johannes heißt es: „Es wurden dem Weibe zwei Flügel gegeben wie eines großen Adlers, daß sie in die Wüste flöge an ihren Ort, da sie ernährt würde.“
Die alten Zustände, die in der Auflösung begriffen sind, sind nicht wirklich, sonst wären sie von Bestand; und die neuen Erfahrungen und Beziehungen, die sich entwickeln, sind keine materielle Wirklichkeiten, sondern Wirkungen der Kundwerdung und Entdeckung geistiger Eigenschaften und Tatsächlichkeiten, die stets wirklich und zur Hand gewesen sind und nur darauf gewartet haben, von den Menschen wahrgenommen zu werden. Weder Mann noch Weib kann den Anforderungen der Stunde ausweichen. Wiewohl diese Anforderungen so streng wie nie zuvor zu sein scheinen, wiewohl Männer bis in die fernsten Enden der Erde gesandt werden, so sind das doch alles nur Gelegenheiten, aufs neue des Menschen Einssein mit dem Geiste zu demonstrieren. Der Psalmist hatte wahrlich die Untrennbarkeit des Menschen vom Prinzip erkannt, als er erklärte: „Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde mich doch deine Hand daselbst führen und deine Rechte mich halten.“ Männer und Frauen können und werden durch die Erkenntnis des Prinzips und durch die Erkenntnis des Menschen als Ausdruck der göttlichen Intelligenz alle ihnen gestellten Aufgaben erfüllen. Daran zu zweifeln oder zu zögern, hieße dem Mesmerismus des materiellen Sinnes nachgeben, der die Menschheit in unwirklichen Schranken gefangen halten möchte.
Welche Arbeit auch zu verrichten sei, was zu tun man auch durch die Notwendigkeit der Stunde angehalten oder gezwungen wird, man muß Tätigkeit vom metaphysischen Standpunkt aus betrachten, wenn man die geistigen Fittiche finden und aus dem Gefängnis der Materie entfliehen will. Mit anderen Worten, es ist unmöglich, die göttliche Harmonie des Seins zu demonstrieren, solange man die Wirklichkeit von irgend etwas außer Gott anerkennt. Auch kann man nicht unbeschadet die Entschuldigung vorbringen, daß es heute bequemer sei, mit oder durch die Materialität zu arbeiten, wiewohl man morgen, wenn die Gelegenheit günstiger sei, wissenschaftlicher zu arbeiten gedenke. Nur der Geist und seine Wiederspiegelung sind jetzt wirklich. An dem Ort, wo man sich heute aufhält und bei der Arbeit, an der man heute ist, muß man sein Verständnis von der Allheit des Geistes beweisen. Der Zimmermann von Nazareth, die Fischer von Galiläa und die Zeltmacher in Korinth erkannten die Wahrheit mitten in der Arbeit, an der sie gerade waren, und stiegen zum geistigen Bewußtsein des Seins und zur klareren Erkenntnis der Ewigkeit — empor nicht nur, weil sie in der Erfüllung materieller Aufgaben treu waren, sondern auch wegen ihrer Erkenntnis der Nichtigkeit der Materie. Man darf nicht vor der Aufgabe zurückschrecken, dem Irrtum in seiner verlockenden Verkleidung die Maske abzureißen, wenn man die angenehmeren Bande des Irrtums loswerden will. „Der Vogel, der mit dem rechten Flügel flattert, um emporzusteigen,“ schreibt Mrs. Eddy in „Miscellaneous Writings“ (S. 267), „während er mit dem linken die Richtung nach unten einschlägt, fällt zur Erde. Beide Flügel müssen für die reine Höhenluft und zum Fluge nach oben geputzt sein.“
Wenn alles materielle Vertrauen zu schwinden anfängt, wenn die Pfade des sinnlich Angenehmen allmählich zergehen, wenn wir wirklich anfangen, die Nichtsheit alles Materiellen einzusehen (wiewohl wir dies durch die Verkehrtheit des Leidens anstatt durch die Wissenschaft gelernt haben mögen), wenn wir danach streben, unsere Gedanken inniger mit Gott zu vereinen, dann werden wir diesen schmerzlichen Umstand oder jene überwältigende Aufgabe wohl als eine Prüfung ansehen, sie aber nichtsdestoweniger als die göttlich vorbereitete Gelegenheit erkennen, einen Anfang mit dem Aufstieg zum „geistigen Bewußtsein des Seins“ zu machen.