Die vielen Stellen in der Bibel, wo von dem Hirten die Rede ist, verlangen eine nähere Betrachtung dieser Redefigur. Wenn sich Jesus den guten Hirten nennt, so bedeutet das nicht bloß wachsame Fürsorge des Hirten für die Schafe seiner Herde. Des Meisters Lehre umfaßt weit mehr als das; sie bleibt nicht bei liebevoller Sorgfalt stehen. Stets lehrte Jesus, daß die Jünger etwas Unmittelbares, etwas Besonderes tun müssen. Wie alle Lehrer, so wußte auch er, daß eine Lehre, sei sie noch so klar, umsonst ist, wenn nicht derjenige, der gelehrt wird, sich wie ein Schüler verhält, seine Geisteskräfte übt und sich das Gelernte einverleibt. Jesus, der „gute Hirte,“ konnte in seiner großen Liebe und seinem unendlichen Erbarmen führen und unterweisen; aber seine Jünger mußten folgen. Er verkündete die ewige Wahrheit des Lebens, die der Welt wegen ihrer Unwissenheit verborgen gewesen war. Er ermahnte seine Schüler, Unwissenheit, Aberglauben und vorgefaßte Meinungen abzulegen, sich über die falschen Annahmen und die Beschränkungen der materiellen Sinne zu erheben und seinen Lehren zu folgen.
Der Hirte tritt uns als bildlicher Ausdruck durchweg in der Bibel entgegen. Die Stelle: „Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln,“ hat schon so manchem bekümmerten Herzen Trost und Heilung gebracht. Die in diesen Worten zum Ausdruck kommende liebevolle Fürsorge macht stets einen tiefen Eindruck. Die darauffolgenden Worte: „Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser,“ bedeuten nicht nur, daß der Hirte gegen seine Herde aufmerksam und rücksichtsvoll war, sondern auch, daß die Schafe gehorsam und entgegenkommend waren. Hätten sich die Schafe von dem frischen Wasser und den friedlichen Ruheplätzen abgewandt, um in ihrer Unwissenheit die rauhen Abhänge und die Wildnis aufzusuchen, so wäre ihnen kein Tisch im Angesicht ihrer raubsüchtigen Feinde bereitet worden, und die Segnungen des Guten und der Barmherzigkeit wären ihnen nicht gefolgt. In diesem tröstenden und verheißungsvollen Psalm ist ferner eine Strafe angedeutet, welche die Schafe trifft, die sich nachlässig oder eigenwillig von der schützenden Fürsorge des Hirten entfernen. „Dein Stecken und Stab trösten mich.“ Der Stecken und der Stab der Wahrheit trösten immer noch die Menschheit. Sündigen wir, so leiden wir. Solches ist unausbleiblich — und zwar nicht etwa, weil der Hirte den Verirrten seinen Zorn fühlen läßt, sondern weil man, wenn man sich vom Prinzip entfernt und auf Abwegen Nahrung und Wohlergehen sucht, an rauhe Abhänge und in die Wüste kommt, wo nichts Gutes zu finden ist, weil das Gute da nicht gedeiht.
Wenn die Schafe auf unbekannte Wege geraten und allein auf den Bergabhängen umher irren, so mag die Strafe ihrer Meinung nach recht streng sein, ja sie mögen sogar vor Kälte und Entbehrung umkommen. Und doch hat der Hirte stets ein Herz voll Liebe und Erbarmen gegen sie. Er möchte sie so gerne in die Hürde zurückführen, ihnen Nahrung geben und sie trösten. In dieser Hinsicht sind die Sterblichen den Schafen sehr ähnlich. Will die Menschheit von ihren Leiden befreit werden, so muß sie aufhören zu sündigen. Ohne allen Zweifel ist ein gut Teil des Leidens der Menschen auf Sünde und Unwissenheit zurückzuführen. Die Schafe mögen nicht die Absicht haben, in die Wildnis zu gehen; wenn sie sich aber nur einen Augenblick von der Herde entfernen, am Wegesrand grasen, wo es ihnen so gut gefällt, verbotenes Weideland betreten, das ihnen so schön vorkommt, verlieren sie leicht den Hirten aus den Augen, und die Folgen sind dann Furcht und Verwirrung, ja Leiden und Verzweiflung.
Wir lernen einsehen, daß wir bestimmt für das christlich-wissenschaftliche Heilen, für christlich-wissenschaftliche Vollbringungen eintreten müssen. „Auf der einen Seite wird Disharmonie und Schrecken sein, auf der anderen Wissenschaft und Friede“ (Wissenschaft und Gesundheit, S. 96). Zwischen den beiden gibt es keinen Standpunkt, den man einnehmen könnte. Wenn wir willig und gehorsam sind, dem Meister folgen und auf die Lehren unserer Führerin achten, so mag zwar der Weg zuweilen noch rauh und schwierig erscheinen; aber der Schäfer geht uns voran, führt uns liebevoll und erwartet nichts Unmögliches. Der Hirte kennt die Schafe; er weiß, was ihnen not tut und bringt sie zuletzt auf grüne Auen und zum frischen Wasser. Wenn aber die eigenwilligen Herzen fremde Pfade und verbotene Nebenwege suchen, bleiben die bösen Folgen nicht aus. Menschen, die das göttliche Prinzip des Seins verlassen haben und in Irrtum geraten sind, mögen wohl zu Gott flehen, daß Er sie errette; aber zuerst müssen sie einsehen lernen, daß das Vernichten der Sünde die einzige Sündenvergebung ist, und daß Schutz nur dem zuteil wird, der in der Wahrheit verweilt und in der Liebe wohnt.
Die verbotenen Wege der Erde sind veränderlich. Sie nehmen zuweilen ein neues Aussehen an und sind den Rand entlang mit Augenlust und Fleischeslust geschmückt. Das sterbliche Gemüt ändert sich jedoch nicht im wesentlichen. Daher begegnen wir dem widerspenstigen Herzen, das nach Macht trachtet und das nie die Macht und Sanftmut der Herzensgüte geschmeckt hat; wir sehen, wie Eifersucht, Neid und Habsucht auf der schönsten Weide wuchern und ihren tötlichen Einfluß verbreiten; der Schüler jedoch, der auch nur in geringem Maße den rechten Weg kennen gelernt hat, denselben zu gehen sucht und sich dabei stets auf den guten Hirten verläßt, wird sich nicht von diesen giftigen Instinkten des sterblichen Gemüts täuschen lassen, sondern er wird seine mentale Atmosphäre von diesen tötlichen Miasmen frei halten.
„Der menschlichen Annahme gemäß ist der Blitz ungestüm und der elektrische Strom geschwind, in der Christlichen Wissenschaft jedoch wird der Flug des einen und der Schlag des andern unschädlich werden“ (Wissenschaft und Gesundheit, S. 97). Dies hat sich in vielen wohl beglaubigten Fällen als wahr erwiesen. Die schützende Macht der Wahrheit würde öfter zu sehen sein, wenn nicht die Unwissenheit und Verderbtheit materieller Annahmen wäre. Diesen Dingen, die dem menschlichen Leben zugestandenermaßen schädlich sind, müssen wir mit der Christlichen Wissenschaft entgegentreten und sie berichtigen. Wir müssen die Wissenschaft des Seins verstehen, um ihren Erfordernissen gerecht zu werden. Wir müssen uns nach dem Prinzip, nach der ewigen Wahrheit richten, uns weder nach rechts noch nach links wenden, sondern demütig mit Gott wandeln und Ihn und die befriedigenden Verfahrungsarten, die zum ewigen Leben führen, kennen lernen. Diejenigen, die Gott kennen und in Seinen Wegen wandeln, sind wie die Schafe, die den Hirten kennen und ihm gerne folgen. Und durch freudigen Gehorsam erreichen sie die erwünschten grünen Auen und das frische Wasser.
