Skip to main content Skip to search Skip to header Skip to footer

„Seid niemand nichts schuldig“

Aus der Januar 1920-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Woher und warum? Diese Fragen bereiten wahre Tantalusqualen, indem sie den strebsamen Menschen beständig anziehen und ihm ausweichen. In der Hauptsache stellt die menschliche Philosophie und menschliche Wissenschaft den Versuch dar, Antworten auf derartige Fragen zu finden. Die scheinbare Zwecklosigkeit solches Bestrebens bewog Pilatus, die Frage an Jesus zu richten: „Was ist Wahrheit?“ Und heute nach neunzehnhundert Jahren weiteren angestrengten menschlichen Strebens stellt der moderne Pilatus in noch müderem Tone diese Frage aus alter Zeit. Trotz aller Forschungen vergangener Jahrhunderte ist wohl die menschliche Philosophie in keiner Hinsicht so im unklaren wie in ihrem Versuch, „die Beziehung zwischen den Sinnen und der Erkenntnis“ festzustellen, mit anderen Worten, die scheinbare Kluft zwischen denselben zu überbrücken. Eine der hervorragenden modernen Autoritäten erklärt offen: „Es ist zuestandenermaßen sehr schwierig, die Beziehung zwischen beiden zu erklären.“ Woher kommen unsere Gedanken und warum kommen sie? Woher kommen die Gedanken, die man nicht auf Sinneswahrnehmungen zurückführen kann, und welchen Zweck haben sie? Zuweilen erscheinen sie der dichterischen Phantasie wie „Schmetterlings-Suggestionen,“ zu anderen Zeiten wie Legionen aggressiver, zauberhafter Phantasiegestalten, und dann wieder wie „das leise, sanfte Flüstern eines Engels,“ wie jemand treffend gesagt hat.

Der Philosoph, der nicht durch die Christliche Wissenschaft erleuchtet worden ist, gibt keine befriedigende Antwort. Er irrt samt seinen Zuhörern in der Wildnis von Hypothesen, Theorien und Mutmaßungen umher. Die Erkenntnis der Christlichen Wissenschaft hingegen macht es dem Schüler möglich, sich klar zu werden, ob diese uneingeladenen und unangemeldeten Gedanken und Phantasiebilder bloß „fliegender Blütenstaub“ sind, um Mrs. Eddys Worte aus „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ (S. 235) zu zitieren, oder ob es sich dabei um „geistige Eingebungen“ handelt, „die rein und vollkommen sind“ (S. 581). Sie befähigt ihn, „die Geister“ zu prüfen „ob sie von Gott sind,“ und versieht ihn mit einem untrüglichen Prüfstein, mittels dessen er falsche Suggestionen erkennen und bloßstellen, sie von der echten Währung geistiger Gedanken trennen und sie beseitigen und vernichten kann. Sie läßt ihn klar erkennen, daß alle wage Annahmen, unklare Anschauungen und törichte, böse Suggestionen bloße ziellose Stoßwinde und Strömungen in der Atmosphäre der sterblichen Annahmen und Ansichten sind, die wir in ihrer Gesamtheit das sterbliche Gemüt nennen, währenddessen wahre Gedanken und geistige Eingebungen nur vom göttlichen Gemüt kommen, von Gott, „dem Vater des Lichts,“ „der da gibt einfältig jedermann und rücket's niemand auf.“

Der Schüler muß nicht nur zwischen Suggestionen und Eingebungen und zwischen Annahmen und Gedanken unterscheiden lernen, sondern es ist auch sehr wichtig, daß er den engelgleichen Eingebungen und Ermahnungen gehorche, wenn immer ihm diese zuteil werden. Er muß, wie Samuel, wachsam sein, um jederzeit dem himmlischen Ruf folgen zu können; er muß, wie Paulus, „der himmlischen Erscheinung nicht ungläubig“ sein. Die Wachsamen und Gehorsamen sind es, die sich bewußt sind, daß sie „zum frischen Wasser“ geführt werden. Wohl dem, der stets bereit ist zu gehorchen, wenn, wie Jesaja sagt, „deine Ohren werden hören hinter dir her das Wort sagen also: Dies ist der Weg; den gehet, sonst weder zur Rechten noch zur Linken!“ Er wird sich, wie der Psalmist, stets bewußt sein, daß „der Engel des Herrn lagert sich um die her, so ihn fürchten, und hilft ihnen.“

Ein Anfänger im Studium der Christlichen Wissenschaft las einige Monate täglich die Lektions-Predigten, gewann aber dadurch seiner Meinung nach wenig oder gar kein Verständnis von dem Gegenstand. Er glaubte, er mache keine Fortschritte im Erfassen der Christlichen Wissenschaft oder der Lehren der Heiligen Schrift, fuhr aber nichtsdestoweniger fort mit seinem täglichen Forschen, weil er überzeugt war und klar erkannte, daß es zwecklos ist zu beten: „Unser täglich Brot gib uns heute,“ wenn man das tägliche Brot übersieht, das einem bereits so reichlich vorgelegt ist.

Als dieser Schüler eines Tages auf dem Wege nach seinem Geschäftsbüro war, kam ihm unwillkürlich folgendes Schriftwort in den Sinn: „Seid niemand nichts schuldig.“ Scheinbar hatte nichts seine Gedanken beschäftigt, was das Erscheinen dieses Fremden in seinem Bewußtsein hätte bewirken können. Er wußte nicht, wo diese Stelle in der Bibel vorkam, noch erinnerte er sich ihres Zusammenhangs, noch konnte er verstehen, warum sie ihm einfiel. Er schien keine Erfahrung gemacht zu haben, auf welche eine solche Ermahnung Bezug haben könnte, und er wollte sie sich daher zuerst als eine jener unerklärlichen Zwischenfälle, die zuweilen die Aufmerksamkeit der Menschheit erregen, aus dem Sinn schlagen, fuhr aber dann fort, über die Sache nachzudenken, bis ihm zuletzt ein Licht aufging, in dessen Glanz er deutlich erkannte, daß ihm diese Schriftstelle helfen sollte, das, was er durch sein tägliches Lesen der Lektions-Predigten erlangt hatte, in Anwendung zu bringen — im täglichen Leben die geistige Bedeutung der Stelle auszuarbeiten.

Indem er weiter nachdachte, fiel ihm ein, daß er in Wissenschaft und Gesundheit an einer Stelle, wo erklärt wird, wie man die geistige Auslegung der Heiligen Schrift erlangt, folgendes gelesen hatte: „Die Metaphysik löst Dinge in Gedanken auf und tauscht die Dinge des Sinnes gegen die Ideen der Seele ein“ (S. 269). Dieses Verfahren suchte er nun auf die in Frage kommende Stelle in Anwendung zu bringen. Und er war wirklich erstaunt über den raschen Erfolg und die Einfachheit der Übertragung. Die Stelle lautete jetzt: Seid niemand einen Gedanken schuldig. Es war ihm sofort klar, daß ein bedeutender Schritt vorwärts stattgefunden hatte. Nun entstand aber die weitere Frage: Was für Gedanken kann ich einem Menschen schuldig sein? Nach kurzem Nachdenken kam die Antwort: Gedanken der Liebe. So lautete also die Stelle in ihrer übertragenen und erleuchteten Form: Seid niemand Gedanken der Liebe schuldig. Die Überzeugung gewann sofort Raum, daß dies die wahre geistige Bedeutung der Stelle sein muß, daß das Problem die richtige Lösung gefunden hatte und daß das in Wissenschaft und Gesundheit vorgeschriebene Verfahren richtig und zuverlässig ist. Das Nachdenken über zwei weitere Fragen bildete eine angenehme Beschäftigung auf dem Rest des Weges: Wie wird man einem Mitmenschen Gedanken der Liebe schuldig, und wie bezahlt man diese Schuld? Solche und ähnliche Gedanken bilden eine schmackhafte und zuträgliche Gedankenkost für einen jeden Forscher. Als der Schüler das Büro erreichte, fühlte er sich veranlaßt, die in Frage kommende Stelle in der Bibel nachzuschlagen und sie im Zusammenhang zu lesen, um festzustellen, ob er sie richtig ausgelegt habe. Er fand sie im dreizehnten Kapitel des Römerbriefs und las sie mit dankbarem und frohem Herzen: „Seid niemand nichts schuldig, denn daß ihr euch untereinander liebet; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllet.“

Diese Erfahrung war nicht nur ein klarer Beweis, daß die in Wissenschaft und Gesundheit enthaltene Bibelauslegung richtig und zuverlässig ist und daß ihre treue und verständnisvolle Anwendung durch ihre Resultate gerechtfertigt wird, sondern es war auch klar zu ersehen, daß das tägliche Lesen der Lektions-Predigten die Erkenntnis des Schülers weit mehr fördert als er sich bewußt ist, bis ihm ein Problem vorgelegt wird, an dem er seine Erkenntnis beweisen soll. Es kam dem Schüler der Gedanke, daß er nicht erklären könne, in welcher Weise seine tägliche Nahrung assimiliert wird, und daß es gleicherweise nicht notwendig sei, zu wissen, in welcher Weise und in welchem Grade seine geistige Speise in das Verständnis übergeht. Es genügte, zu wissen, daß „täglich Brot“ von der göttlichen Liebe unfehlbar in seine nötigen Nahrungsstoffe aufgelöst werden muß, so daß die Erkenntnis eines jeden Tages zur Lösung des Problems dieses Tages genügt. Ferner erkannte er, daß kein Schüler Gutes erlangen kann, ohne daß nicht zugleich die Ermahnung an ihn erginge, den ihm verliehenen Zentner zu verwerten, so daß das erhaltene Gute wiedergespiegelt werde und der Herr bei Seinem Kommen das Seine mit Zinsen wiedererlangen möge. Auch erkannte der Schüler mit innigem Dank den reichen Segen, der denen zuteil wird, die „ohne ihr Wissen Engel beherbergt“ haben.

Wer niemandem einen Gedanken der Liebe schuldet, kann keinen Menschen etwas im materiellen Sinne schulden. Darüber muß sich ein jeder klar sein, der Augen hat zu sehen. Wenn man die Erkenntnis der Liebe getreulich anwendet, so löst und beseitigt sie unfehlbar jedes Empfinden der Beschränkung, das das aufwärtsblickende, aufwärtsstrebende Kind Gottes gefangen halten mag.

Wenn Sie mehr Inhalte wie diese erforschen möchten, können Sie sich für wöchentliche Herold-Nachrichten anmelden. Sie erhalten Artikel, Audioaufnahmen und Ankündigungen direkt per WhatsApp oder E-Mail. 

Anmelden

Mehr aus dieser Ausgabe / Januar 1920

  

Die Mission des Herolds

„... die allumfassende Wirksamkeit und Verfügbarkeit der Wahrheit zu verkünden ...“

                                                                                                                            Mary Baker Eddy

Nähere Informationen über den Herold und seine Mission.