Man hört zuweilen die Frage: Was gehört dazu, ein Praktiker der Christlichen Wissenschaft zu sein? Die Frage könnte lauten: Was gehört dazu, ein Christlicher Wissenschafter zu sein; denn wie könnte man ein Christlicher Wissenschafter sein, ohne die Christliche Wissenschaft zu praktizieren oder auszuüben? Wer die Tatsache erkannt hat, daß die Christliche Wissenschaft die Wissenschaft des Christentums ist, der erkennt auch, daß man, um ein Christ zu sein, ein wissenschaftlicher Christ sein muß, und daß man, um ein wissenschaftlicher Christ zu sein, ein praktischer Christ sein muß; denn man kann die Christliche Wissenschaft nur in dem Grade verstehen, in dem man sie demonstriert. Ein jeder also, der sich der Christlichen Wissenschaft zugewandt hat und ihren Lehren treu zu sein sucht, ist ein Praktiker der Christlichen Wissenschaft geworden. Entweder ist er ein guter oder ein schlechter Praktiker. Zu welcher Klasse wollen wir gehören?
Christus Jesus war der vollkommene Praktiker der Christlichen Wissenschaft. Obgleich nun sein Werk stets vollkommen war, so war es doch der Größe nach fortschreitend. Er erreichte nicht sofort die Himmelfahrt, sondern tat jeden nötigen Schritt, vom Anfang bis zu Ende seiner Demonstration. Jeder Christliche Wissenschafter muß in den Fußtapfen Jesu wandeln, wofern er erreichen will, was unser gesegneter Meister erreicht hatte und uns in Aussicht stellte, als er seinen Nachfolgern den Befehl gab: „Macht die Kranken gesund, reinigt die Aussätzigen, weckt die Toten auf, treibt die Teufel aus.“ Sehr ermutigend ist die Tatsache, daß die Wahrheit sofort nachdem man sie erkannt hat, bewiesen, ausgeübt und demonstriert werden kann. Wie gering das Verständnis von der Christlichen Wissenschaft auch sein mag, man kann sie genau in dem Verhältnis anwenden, in dem man sie versteht, und von dem Augenblick an, wo man sich zu ihr bekennt, kann man sie praktizieren oder ausüben.
Wenn man die Regeln des Prinzips anwendet, wie sie in der Christlichen Wissenschaft geoffenbart werden, so folgen Resultate und man wird ermutigt, vorwärts zu gehen und die wunderbaren Möglichkeiten dieser Wissenschaft zu beweisen. Nachdem sich uns die Christliche Wissenschaft zu entfalten beginnt, meinen wir zuweilen, wir könnten dem Irrtum gegenüber „gewaltig“ reden, und wir wundern uns dann, wie ein solch kleines Maß der Erkenntnis solch große Ergebnisse herbeiführen kann. In bezug hierauf sagt Mrs. Eddy in Wissenschaft und Gesundheit (S. 449): „Ein Körnlein der Christlichen Wissenschaft tut Wunder für die Sterblichen, so allmächtig ist Wahrheit;“ und man achte darauf, daß sie fortfährt: „Man muß sich aber mehr von der Christlichen Wissenschaft aneignen, um im Gutestun beharren zu können.“ Dies ist ein sehr wichtiger Punkt in dem fortschreitenden Werk des Praktikers der Christlichen Wissenschaft, denn um Fortschritte zu machen, muß er beständig in der Erkenntnis des Buchstabens und des Geistes wachsen.
Etwas später in der Praxis der Christlichen Wissenschaft kommt eine Zeit, wo der Schüler ganz besonders herrliche Visionen der Wahrheit hat, und er findet, daß er in höherem Grade als je zuvor imstande ist, sich selbst und andere von hartnäckigen und quälenden Annahmen zu befreien. Dann meint er wohl, dieses Licht müsse das volle Maß des Guten sein, und er denkt, wenn er es nur festhalten könnte, würde er keiner höheren Erkenntnis bedürfen, um spätere Hindernisse irgendwelcher Art zu beseitigen. Indem er dann vorwärts geht, scheint sein Licht entflohen zu sein. Vielleicht gerät er in einen Zustand der Selbstanklage, weil er denkt, er besitze nicht die Fähigkeit, die Vision festzuhalten, von der er sich die Lösung all seiner künftigen Probleme versprach. Die klarere Erkenntnis der fortwährenden, unvernichtbaren Tätigkeit des göttlichen Gemüts gibt ihm jedoch die Zuversicht, daß die Vision, die er gehabt und die er für überaus herrlich und mächtig gehalten hatte, verhältnismäßig nur ein schwacher Schimmer der unendlichen Klarheit der Wahrheit gewesen war, und er muß bereit sein, beharrlich vorwärts zu gehen, wenn er die Fülle der Herrlichkeit des göttlichen Gemüts erreichen will. Sodann muß er nicht denken, daß ihm die Vision entschwunden sei, denn dies ist nicht der Fall. Sie ist immer noch vorhanden und lenkt seinen Fuß zu fernerem Fortschritt. Vielleicht ermutigt sie ihn, den Weg durch eine besondere Wildnis menschlicher Annahmen einzuschlagen, eine Wildnis, die gerade dieses Licht ihm als ein wichtiges Förderungsmittel geoffenbart hat. Er denke darum nicht, er sei wieder in der alten Wildnis. Diese ist eine andere, weiter oben auf dem Berg des Strebens, und er braucht nur höher zu steigen, um einen weiteren, befriedigenderen Ausblick auf himmlische Dinge zu erlangen. So entfaltet sich eine immer höhere Erkenntnis der Allmacht und Allgegenwart der Wahrheit und Liebe.
Wir haben also auf der ganzen Strecke des Weges die frohe Zuversicht, daß die mentale Tätigkeit in der Praxis der Christlichen Wissenschaft in Wirklichkeit eine Entfaltung des Einsseins des Menschen mit Gott ist. Sie besteht in der stets zunehmenden Erkenntnis, wie man sich immer völliger und mit immer größerem Verständnis auf das göttliche Prinzip verlassen muß, zu jeder Zeit und unter allen Umständen, und wie man das darauffolgende beglückende Vorrecht genießen kann, das Licht und die Lieblichkeit des christlich-wissenschaftlichen Denkens und Lebens auf andere wiederzuspiegeln. Solcher Art ist die wahre Praxis. Wenn man sie ehrlich betreibt, erfreut man sich eines normalen, natürlichen und richtigen Wachstums. Man wird sich dann nicht in eine Arbeit hineindrängen lassen, auf die man nicht vorbereitet ist, noch wird man sich von der Arbeit abhalten lassen, die einem Gott zuerteilt hat. Jesus tat in seiner Demonstration nie etwas von ihm selbst. Er sagte: „Die Worte, die ich zu euch rede, die rede ich nicht von mir selbst. Der Vater aber, der in mir wohnt, der tut die Werke.“
Der wahre Praktiker der Christlichen Wissenschaft tut also jeden Schritt unter der unmittelbaren Leitung Gottes. Er fürchtet sich dann nicht und strauchelt nicht. Er rennt weder voraus, noch erweist er sich als Nachzügler, sondern er ist jederzeit bereit, sich in den Dienst Gottes zu stellen. Je mehr sein Werk an Umfang zunimmt, desto mehr wird er vor Mißbegriffen bewahrt bleiben, die das eigenwillige Streben begleiten. Er wird erkennen lernen, was zu einem Patienten und was zu einem Praktiker gehört. In „No and Yes“ (S. 40) sagte uns unsere geliebte Führerin: „Ich halte meine Schüler dazu an, ihr mentales Werk mit aller Ehrfurcht zu betreiben und nie auf den menschlichen Gedanken einzuwirken, außer um die Wahrheit ans Licht zu bringen; nie auf mentalem Wege individuelle Rechte zu verletzen; der Menschheit nie ihr Recht sondern nur ihr Unrecht zu nehmen. Anderenfalls verlieren sie ihre Fähigkeit, der Wissenschaft gemäß zu heilen.“ Es versteht sich daher von selbst, daß kein wahrer Praktiker der Christlichen Wissenschaft Eigentumsrecht auf einen Patienten erhebt, ihn zu beherrschen oder ihm Befehle zu erteilen sucht! Die wahre Praxis gibt dem, der nach Hilfe verlangt, ein klareres Bewußtsein, daß nur Gott, das göttliche Prinzip, ihm irgend etwas Gutes verleihen kann, da Gott allein der Schöpfer, Erhalter und Beherrscher des Menschen ist.
Kein Beruf ist so heilig wie der des Praktikers der Christlichen Wissenschaft. Ein jeder muß unter der direkten Leitung des göttlichen Gemüts sein Werk in dieser Richtung gleichzeitig mit seinem individuellen Wachstum zur Entfaltung kommen lassen. In „Retrospection and Introspection“ (S. 28) sagt Mrs. Eddy in bezug auf die große Notwendigkeit der Gotteserkenntnis: „Er [Gott] muß in praktischer Weise der Unsere sein, muß jeden Gedanken und jede Tat beherrschen, denn sonst können wir die Allgegenwart des Guten nicht genügend verstehen, um auch nur teilweise die Wissenschaft des vollkommenen Gemüts und des göttlichen Heilens zu verstehen.“ Der Praktiker der Christlichen Wissenschaft dringt also geduldig, andachtsvoll und frohen Mutes vor und tut Fleiß, wie Paulus sagt, seine „Berufung und Erwählung festzumachen; denn wo ihr solches tut, werdet ihr nicht straucheln, und also wird euch reichlich dargereicht werden der Eingang zu dem ewigen Reich unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi.“