Das Wort Allgegenwart kommt nicht in der Bibel vor; und doch ist die Bibel von Anfang bis zu Ende von dem Gedanken durchdrungen, den dieses Wort zum Ausdruck bringt. Gottes Allgegenwart ergibt sich im Alten wie im Neuen Testament nicht nur aus dem Zusammenhang, sondern sie wird in vielen kraftvollen Stellen in nicht mißzuverstehender Weise gelehrt. Eine derselben ist so wohl bekannt und wird so oft angeführt, daß sie bei allen Christen fast zum Alltagswort geworden ist. Der hundertneununddreißigste Psalm wird durch die Furchtlosigkeit, die er zum Ausdruck bringt, sowie durch die Kühnheit und Schönheit seiner Sprache zu einer wahren Perle in der Schatzkammer des Christlichen Wissenschafters. Es erübrigt sich, weitere Beweise anzuführen, daß die Lehre von der Allgegenwart Gottes eine biblische Grundlage hat, denn über diesen Glaubenssatz ist sich sowohl die jüdische wie die christliche Welt einig. Die Menschen mögen über die Art und Weise, wie sich Gottes Allgegenwart kundtut, verschiedener Meinung sein; aber die eigentliche geistige Tatsache geben sie alle zu. Nun wird aber der Forscher finden, daß die Anschauungen sowohl der Juden wie der Christen in bezug auf die Frage, wie sich die Allgegenwart Gottes kundtut, äußerst unbestimmt sind; daß sie keine großen Anstrengungen gemacht haben, den Gegenstand wissenschaftlich zu erklären, sondern ihn als außerhalb des Bereiches der Wissenschaft gelegen betrachteten; daß man den praktischen Wert und die große Wichtigkeit dieser Lehre fürs tägliche Leben nie verstanden hat.
Mrs. Eddy erkannte vermöge ihres klaren geistigen Blicks den großen praktischen Wert, ja die absolute Notwendigkeit einer anwendbaren Erkenntnis dieses Glaubensartikels, weshalb sie ihn auch in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ und in ihren anderen Schriften so klar darlegte, daß er fürs tägliche Leben wahren Wert erhielt. Dies ist eins der vielen Einzelheiten in ihrer umfangreichen Tätigkeit, die die Christlichen Wissenschafter mit tiefgefühltem Dank und stets wachsender Anerkennung erfüllen. Ihre geduldigen wissenschaftlichen Erklärungen und Demonstrationen waren es, die es den Christlichen Wissenschaftern jetzt möglich machen, eine einigermaßen klare Einsicht in einen Gegenstand zu bekommen, der für sie nicht viel mehr bedeutete als eine unklare, unerklärte, theologische Theorie, und zu beweisen, daß er eine praktische Möglichkeit fürs tägliche Leben ist. Dadurch wird diese Lehre von dem befreit, „was in weiter Ferne liegt,“ wie es im „Verlorenen Paradies“ in der Ermahnung heißt, die die himmlische Weisheit durch den Mund des Engels dem aus Eden vertriebenen Menschenpaar gab:
Nicht das Erforschen dessen, was in weiter Ferne liegt,
Was dunkel ist, spitzfindig, klug erdacht;
Nein, das Erkennen dessen, was man nahe vor sich sieht,
Ist wahre Weisheit.
Es ist stets ratsam, die Betrachtung eines wichtigen Gegenstandes mit einer genauen, zuverlässigen Begriffsbestimmung zu beginnen, wenn eine solche vorhanden ist. Man hat dann eine feste Grundlage, auf der man den Oberbau des Denkens errichten kann. Eine solche Begriffsbestimmung hat unsere verehrte Führerin ihren Schülern gegeben. Auf Seite 102 von „Miscellaneous Writings“ sagt sie: „Die Wissenschaft bestimmt Allgegenwart als Allumfassenheit, als das, was die Gegenwart des Bösen ausschließt. Diese Wahrheit vernichtet das Zeugnis der Sinne, welches sagt, die Sünde sei eine böse Macht und Substanz sei vergänglich.“ Im Lichte einer solchen klaren, umfassenden Begriffsbestimmung kann der Schüler der Entfaltung dieses Gegenstandes in ihrer praktischen Beziehung zum täglichen Leben und in ihrer Anwendung auf dasselbe getrost entgegensehen.
Vor allem lernt man einsehen, daß Gott für die körperlichen Sinne nicht allgegenwärtig, ja überhaupt nicht gegenwärtig ist. Diese Sinne können die Gegenwart Gottes nicht nur niemals wahrnehmen, sondern sie bezeugen auch fortwährend Gottes Abwesenheit und die Gegenwart des Bösen, das sich als Sünde, Krankheit, Kummer, Zufall, Veränderlichkeit, Unglück, Elend, Beschränkung und Verlust kundtut. Paulus erklärt daher, die fleischliche Gesinnung — die Summe der körperlichen Sinne — sei „eine Feindschaft wider Gott.“ Das, was beständig Gottes Abwesenheit, Gleichgültigkeit und Unfähigkeit bezeugt, kann nichts anderes als ein Feind Gottes genannt werden. Kein Verleumder kann Sein treuer Untertan, Sein gehorsames Kind oder Sein treuer Freund sein.
Die erste Frage also, die uns bei der Betrachtung dieses Gegenstandes entgegentritt, lautet: Wie wird Gottes Gegenwart dem Menschen wahrnehmbar? Der denkende Mensch darf wohl sagen, ohne unehrerbietig zu sein: Wenn Gott nicht mit mir ist und mir in meiner Not hilft, welchen Wert hat dann die Lehre von Seiner Allgegenwart für mich? Ein theologisches Dogma, sei es noch so logisch oder noch so stark hinter Bibelstellen verschanzt, muß seinen praktischen Wert fürs tägliche Leben beweisen, ehe ich ihm wahrhaft beistimmen kann. Man nenne das pragmatisch, man nenne es was man wolle; aber die Tatsache läßt sich nicht ändern, daß der Mensch, wenn er in Not ist, nach der Gegenwart des lebendigen Gottes schreit, sei es auch ohne Erkenntnis und unbewußt. Tröstet man ihn zu solchen Zeiten mit einem Dogma, so bietet man ihm dadurch einen Stein, während er Brot verlangt. Wenn man ihm in seiner Not nicht die heilende und erlösende Gegenwart Gottes beweisen kann, welchen Wert haben dann Worte, leere Worte? Und solche Worte beschreibt Mrs. Eddy in Wissenschaft und Gesundheit (S. 367) sehr treffend als „stereotype entlehnte Redensarten und das Austeilen von Argumenten, welche lauter Parodien auf die echte Christliche Wissenschaft sind, die von göttlicher Liebe erglüht.“
Der Prophet Elia mußte dieses Problem der praktischen Erkenntnis der Allgegenwart Gottes in Angriff nehmen und es lösen, und seine Erfahrung ist für diejenigen aufgezeichnet worden, die Augen haben zu sehen. Nachdem Elia den Propheten des Baal gegenüber seine große Demonstration gemacht und diese falschen Propheten hingerichtet hatte, wie im achtzehnten Kapitel des ersten Buchs der Könige zu lesen ist, erhielt er eine Botschaft von der Königin Isebel, die ihm dem Tode ankündigte. Und was tat dieser große Prophet, dieser siegreiche Kämpfer des lebendigen Gottes? Hielt er stand in der Erkenntnis, daß Gott allgegenwärtig und allmächtig ist und daß daher Seinem Diener nichts Böses zustoßen kann? Das neunzehnte Kapitel in den 1. Königen enthält eine wichtige Lehre für solche, die zur Entmutigung und Selbstverdammung geneigt sind. Wenn sogar der Prophet Elia Gottes Gegenwart vergaß, oder wenn er sie nicht demonstrierte und daher sich der Furcht ergab und davonlief, um sein Leben zu retten, sollen wir uns dann schonungslos verdammen, wenn wir einen Augenblick geschwankt haben? Nachdem Elia „an dem Berg Gottes“ Schutz gefunden hatte und sozusagen zu Atem gekommen war, sah er ein, daß er sein Problem mutig in Angriff nehmen und es lösen mußte, um nie wieder von Furcht überwältigt werden zu können. Ohne Zweifel redete er etwa wie folgt mit sich selber: „Ist Gott nicht ebensowohl in Jesreel wie in der Höhle am Berg Horeb? Gewiß! Wenn nun Gott da gegenwärtig war, warum bin ich geflohen? Offenbar deshalb, weil ich mir Seiner Gegenwart nicht klar bewußt war. Das ist somit das Problem, welches ich lösen muß, ehe ich es wagen darf, diese Höhle zu verlassen.“ Die Lösung, zu der Elia gelangte, wird in genanntem Kapitel auf echt orientalische Art wiedergegeben. Nach genauer Überlegung erkannte er die ewige geistige Tatsache, daß Gott nie materiell gegenwärtig ist, daß Er nie in der Materie ist noch sich durch die Materie kundtut, sondern sich stets nur geistig offenbart, in dem stillen, sanften „Sausen,“ das nur dem geistigen Bewußtsein vernehmbar ist. Dies ist die Erkenntnis des Immanuel, Gott mit uns; dies ist die Demonstration der Gegenwart der völligen Liebe, die alle Furcht austreibt; dies ist wahrlich „derselbe Geist,“ der „Zeugnis“ gibt „unserm Geist, daß wir Gottes Kinder sind.“
Eine hilfreiche, wenn auch unvollkommene Parallele haben wir in der Grundwahrheit der Mathematik. Sie ist überall im geklärten Bewußtsein vorhanden, muß aber demonstriert werden, um praktischen Wert zu haben und anwendbar zu sein. Wo man auch in Gottes Weltall sein mag, da ist die Wahrheit der Mathematik gegenwärtig und ist zur Lösung jedes mathematischen Problems verfügbar. Aber man muß diese Wahrheit selber nach bestem Vermögen anwenden, muß jeden Irrtum vernichten und austreiben. Für den, der dazu zu träge oder zu furchtsam ist, ist die Wahrheit der Mathematik nicht gegenwärtig. Wenn wir uns dementsprechend durch Unwissenheit, Furcht oder Eigenwillen für die Allgegenwart Gottes blind machen lassen und eine materielle Lösung unserer Probleme suchen, geht die Schrift in Erfüllung: „Dann werden sie nach mir rufen, aber ich werde nicht antworten; sie werden mich suchen, und nicht finden.“ „Solcher Mensch denke nicht, daß er etwas von dem Herrn empfangen werde.“ Erst wenn er aus seinem mesmerischen, materiellen Annahmen erwacht, ist Gott für ihn gegenwärtig.
Christus Jesus ist „der Weg und die Wahrheit und das Leben,“ denn er hat es allen, die sehende Augen haben, klar gemacht, wie man die Gegenwart Gottes demonstrieren kann. Zu der Samariterin sagte er: „Gott is Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten;“ und in der großen Rede, die als Bergpredigt bekannt ist, legte er das Grundgesetz nicht nur zum Zweck der Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit dar, sondern auch, um die Gegenwart Gottes als Immanuel, Gott mit uns, zu demonstrieren. Dieses Grundgesetz lautet: „Selig sind, die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.“ Diejenigen, die materiellen Annahmen keinen Raum gewähren und keine Macht zugestehen, die beharrlich und ohne Wanken an der Allheit und Allmacht Gottes festhalten, werden stets mit dem Psalmisten sagen können: „Du tust mir kund den Weg zum Leben; vor dir ist Freude die Fülle und liebliches Wesen zu deiner Rechten ewiglich.“ Und solche können dann aufrichtig und in Wahrheit in das Lied unserer Führerin einstimmen (Poems, S. 14):
Deiner Stimme lausche ich,
Denn sonst irrt mein Fuß;
Freudig folg' ich, wenn ich auch
Über Felsen muß.