Folgende Worte des Apostels Paulus gewinnen für jeden aufrichtigen Arbeiter in dem Maße seiner geistigen Entfaltung eine immer höhere Bedeutung: „Der Mensch prüfe aber sich selbst, und also esse er von diesem Brot und trinke von diesem Kelch.“ Hier ist die Frage angebracht, welcher Art dieses Brot und dieser Kelch sind, die eine so sorgfältige Vorbereitung von seiten derer verlangen, die an ihnen teilhaben wollen. Prüfen heißt forschen, und das Wort forschen bedeutet eine rege Tätigkeit, eine Tätigkeit, die fast als streng und unerbittlich bezeichnet werden könnte und mit der man nicht eher aufhören darf, als bis das ersehnte Ziel erreicht ist. Diese Ermahnung gab Paulus den Korinthern, und zwar offenbar während einer Zeit, da die Kirche in Korinth dem menschlichen Willen und dem fleischlichen Gemüt erlaubt hatte, die Kirchenregeln zu übertreten und störend auf deren Befolgung einzuwirken. Der Apostel weist deutlich darauf hin, daß die Kirche ein Zustand des Gemüts, nicht ein materielles Gebäude oder eine materielle Organisation ist, denn er sagt später in demselben Kapitel: „Verachtet ihr die Gemeinde Gottes?“ und im weiteren: „Darum sind auch viele Schwache und Kranke unter euch, und ein gut Teil schlafen.“ Schlaf versinnbildlicht jenen Zustand des Gemüts, der geistigen Eingebungen gegenüber tot ist. Und als ob er vorausgesehen hätte, daß es solche geben würde, die gern in das Allerheiligste eintreten möchten, deren geistiges Auge aber noch zu schwach oder zur Zeit noch zu trübe war, sagte er erbarmungsvoll: „Darum, meine lieben Brüder, wenn ihr zusammenkommt, zu essen, so harre einer des andern.“
Mrs. Eddy erklärt in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ (S. 518): „Die geistig Reichen helfen den Armen in einer großen Brüderschaft, und alle haben dasselbe Prinzip oder denselben Vater, und gesegnet ist der Mensch, der seines Bruders Not sieht und ihr abhilft.“ Hier sehen wir, wie notwendig für uns das ernstliche Erforschen unseres Bewußtseins ist, um festzustellen, oh wir vor Gott so reich sind, daß wir das besitzen, was unseres Bruders Notdurft abhelfen kann. Jesus sagte: „Prediget das Evangelium,“ „Macht die Kranken gesund,“ und Mrs. Eddy stellt uns in Wissenschaft und Gesundheit in dem Kapitel, das die Überschrift „Die Betätigung der Christlichen Wissenschaft“ trägt, einige sehr ernste Fragen, die wir bei der Selbstprüfung in Erwägung ziehen müssen, wofern wir diese Arbeit richtig tun wollen. Auf Seite 364 sagt sie: „Zeigen sie [die Christlichen Wissenschafter] ... ihre Ehrfurcht vor der Wahrheit oder vor Christus ... durch echte Buße, durch zerknirschte Herzen, die in Sanftmut und Menschenliebe zum Ausdruck kommen?“ Und auf Seite 366 zeigt sie uns deutlich, wie wir anfangen können, uns auf die heilende Arbeit der Wahrheit und Liebe vorzubereiten, die die zerbrochenen Herzen verbindet, die Aussätzigen reinigt und denen Freiheit bringt, die von dem heimtückischen Mesmerismus der Materialität in allen seinen Formen gebunden sind.
Bedeutet Heiligung nicht, daß man sich dem Dienste des Höchsten weiht? Man muß jeden Schritt tun, der zur Darangabe des eigenen Selbst führt. Reinigung von allem, was sich den Forderungen des Christus widersetzt, ist der erste Schritt. Das Äußere des Gebäudes mag schön und anziehend sein, aber Gott verlangt „Wahrheit, die im Verborgenen liegt.“ Hier nun hält der treue Schüler erschrocken inne. So vieles muß abgelegt werden, wenn diese Arbeit richtig getan werden soll. So viel Unkraut von unerwartet üppigem Wuchs ist emporgewachsen, und vielleicht ist es ganz anderer Art als jenes Unkraut, das in früheren Tagen ausgejätet werden mußte. Selbstgerechtigkeit, Selbstrechtfertigung blühen oft neben mentaler Gleichgültigkeit und Trägheit. Vielleicht setzt man sich, wie der ungehorsame Prophet, unter den Baum vollbrachter Arbeit, anstatt energisch zu neuen Aufgaben vorzudringen, die der Erledigung harren. Wie die kleinen Füchse die Weintrauben verderben, so bringt uns die Nachsicht gegen uns selbst großen Schaden, wenn wir nicht beständig auf der Hut sind und sie gleich bei ihrem Erscheinen ausrotten. Erst im Reich Gottes können wir die Frucht des Weinstocks redlich errungenen Erfolges und unermüdlicher Tätigkeit genießen.
Nachdem wir nun angefangen haben, uns von diesen Irrtümern zu befreien, was können wir an ihre Stelle setzen? Gewiß Eigenschaften der Liebe, der Güte, der Demut, der Bescheidenheit, ja ein reines Verlangen nach allem, was heilig ist, nach der Vollkommenheit unseres Vaters, der im Himmel ist. Jesus gab uns keinen geringeren Maßstab. Und wie können wir diese Aufgabe erfüllen? Haben wir nicht in der Vergangenheit unsere Zeit damit vergeudet, daß wir sagten: „Siehe, hier! oder: da ist es!“ anstatt die Bedeutung der Worte Jesu zu erkennen: „Das Reich Gottes ist inwendig in euch“— eine jetzt gegenwärtige Möglichkeit, die nicht von anderen abhängig ist, sondern nur von der treuen Arbeit, die wir in unserem Weinberge tun? Die Menschen sagen oft: „Warum kann ich keine Heilung bewirken?“ Beten wir genug, lieben wir genug? Forschen wir hinreichend in den beiden wunderbaren Führern zum gottgeweihten Leben, nämlich in der Bibel und in Wissenschaft und Gesundheit? Gibt es irgendeine Phase der menschlichen Annahme, die Gott nicht heilen könnte? Und Er ist der einzige Heiler. In dem Maße, wie wir „gesinnet“ sind, „wie Jesus Christus auch war,“ und nur in diesem Maße werden wir die heilende Wahrheit wiederspiegeln.
Zuweilen will es uns vorkommen als würden wir während dieser Zeit der Selbstprüfung in die Wüste geführt, um dort vom Teufel durch Entmutigung, durch das Gefühl der Einsamkeit, der Verantwortung oder durch Furcht in Versuchung geführt zu werden. Diese Erfahrung in der Wüste ist jedoch nichts, wovor wir uns zu fürchten brauchen, sondern eher etwas, worüber wir uns freuen können; denn wenn wir nur ihre Lektion der Selbsterniedrigung lernen, ernstlicher die Dinge zu vergessen suchen, die dahinten sind, und nach den klareren Höhen der Heiligkeit streben, werden wir eine Ahnung von jenem wunderbaren Vorrecht bekommen, von dem Jesus im siebzehnten Kapitel des Evangeliums des Johannes schreibt: „Ich heilige mich selbst für sie, auf daß auch sie geheiligt seien in der Wahrheit.“
Diese Arbeit kann man nicht dadurch tun, daß man sich auf andere verläßt oder seine Arbeit mit einem anderen Maßstab als dem des göttlichen Gemüts mißt. Wir halten so oft inne, um zu sehen, was andere um uns her tun — um uns zu fragen, ob wir nicht ein wenig rasten und uns von „des Tages Last und Hitze“ ausruhen können. Haben wir unser All auf den Altar gelegt? Wir dürfen mit keiner geringeren Verrichtung zufrieden sein, und nur Gott kann uns zeigen, wie wir handeln müssen. Das menschliche Gemüt sehnt sich stets nach menschlichem Mitgefühl, menschlicher Ermutigung, menschlicher Unterstützung, anstatt in der Christlichen Wissenschaft zu lernen, wie man sich allein auf Gott verlassen kann. Der Schüler der Mathematik wird nicht umherlaufen und einen jeden fragen, wie sein Problem gelöst werden müsse. Selbst unter den Schülern, die denselben Gegenstand studieren, würde er finden, daß sie alle ein verschiedenes Stadium der Entfaltung erreicht haben, und vielleicht würde der Schüler, der das Problem lösen könnte, klug genug sein, einzusehen, daß dem Schüler am besten geholfen wird, wenn er ihm den Vorgang erklärt und ihm klar macht, daß man sich diese Kenntnis nur durch geduldiges Anwenden der Grundregeln der Mathematik erwirbt, und daß er selber sein Verständnis von dem Problem auf diese Weise erworben hat. Niemand kann das Erlangen geistiger Erkenntnis für uns besorgen. Andere können uns den Weg zeigen, aber ein jeder muß ihn selber gehen. Es fehlt uns nicht an Führung, wenn wir nur auf die Stimme der Wahrheit hören. Materialistische Vernunftgründe und menschliche Hypothesen mögen uns sehr verführerisch und anziehend vorkommen, mögen einen leichten Ausweg zu bieten scheinen; aber tief im Bewußtsein wohnt die feste Überzeugung, daß jeder Mensch den geraden und schmalen Pfad allein einschlagen muß, durch individuelle Heiligung und durch seine eigene Gotteserkenntnis.
Auf Seite 3 von Wissenschaft und Gesundheit schreibt unsere Führerin: „Das göttliche Wesen muß vom Menschen wiedergespiegelt werden — sonst ist der Mensch nicht das Bild und Gleichnis des Geduldigen, Gütigen und Wahren, des Einen, der ,ganz lieblich' ist. Aber Gott verstehen ist das Werk der Ewigkeit und erfordert absolute Hingabe der Gedanken, der Energie und des Verlangens.“