Der menschliche Wille wird als die Fähigkeit angesehen, vermöge deren man eine Sache annehmen oder verwerfen kann. Sie scheint den Menschen instand zu setzen, zwischen einem guten und einem bösen Verfahren zu wählen, und viele glauben, man könne fast alles, worauf das Streben gerichtet ist, durch die Ausübung der menschlichen Willenskraft erreichen. Wenn dann aber Unglück und Verwüstung eintreten, die der menschliche Wille nicht abzuwenden vermochte, sieht sich das menschliche Gemüt nach einer Ursache, oder einem Willen außerhalb sich selbst um, und schreibt mit bewunderungswürdiger Inkonsequenz die unerklärlichen Übel, die in seinem eigenen subjektiven Zustand bestehen, dem Walten des göttlichen Willens zu.
Fast alle Menschen geben zu, daß Gott gut ist. Dagegen stimmen sie nicht so bereitwillig darin überein, daß sich Gottes Wille nur durch die Wirkung des Guten kund tut. Wohl hat man die Menschen gelehrt, daß sie sich der unerforschlichen Weisheit Gottes unterwerfen müssen. Wenn sie aber dann die Unglücksfälle, Krankheiten und Leiden erwägen, von denen sie heimgesucht worden sind, erscheint es ihnen, als sei etwas Böses bewirkt worden, möge es auch, ihrer Meinung nach, dem Willen Gottes gemäß gewesen sein. Diese menschliche Verwirrung, diese falsche Annahme, daß der Wille Gottes auf eine geheimnisvolle Weise durch das Böse wirke, damit Gutes daraus entstehe, ist der körperlichen Auffassung von Gott und dem Menschen zuzuschreiben. Der menschliche Wille ist sowohl des Bösen wie des, nach menschlichen Begriff, Guten, fähig, denn es ist die Triebkraft des Gemütes, das vermeintlich in der Materie und getrennt von Gott besteht. Der göttliche Wille kann nur Gutes bewirken, denn er ist die Macht und die Weisheit des unwandelbaren Prinzips, das kein Element des Bösen in sich schließt. Menschliche Willenskraft gerät stets auf falsche Wege, weil sie sich dem Willen Gottes widersetzt, weil sie eine Phase des Glaubens an ein materielles Dasein ist und den geistigen, zum Bilde Gottes geschaffenen Menschen fälscht. Auf Seite 597 von „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ unterscheidet Mrs. Eddy genau zwischen der sogenannten menschlichen Willenskraft und dem Willen Gottes, wie ihn die Christliche Wissenschaft auslegt. Sie schreibt: „Wille. Die treibende Kraft des Irrtums; sterbliche Annahme; tierische Kraft. Die Macht und Weisheit Gottes.“ Und weiter unten sagt sie: „Der Wille als eine Eigenschaft des sogenannten sterblichen Gemüts ist ein Übeltäter; daher sollte dieses Wort nicht mit der Bezeichnung, wie sie auf Gemüt oder auf eine von Gottes Eigenschaften Anwendung findet, verwechselt werden.“
Jesus der Christus erklärte es für seine Aufgabe, den Willen Gottes zu offenbaren und zu demonstrieren, und er erklärte die Wirkung seiner Lehren auf die, welche ihn verstanden. „Ich bin vom Himmel gekommen,“ sagte er, „nicht, daß ich meinen Willen tue, sondern den Willen des, der micht gesandt hat.“ „Denn das ist der Wille des, der micht gesandt hat, daß, wer den Sohn sieht und glaubt an ihn, habe das ewige Leben.“ Es liegt in dem Wesen des Willens, frei zu handeln, denn zwingen kann man ihn nicht. Das spontane Wollen des Guten, das Jesus der Christus offenbarte und demonstrierte, kann somit nur in dem Grade verstanden werden, wie der falsche menschliche Wille dem göttlichen Willen weicht, denn der menschliche Wille ist nicht imstande, wie Gott zu werden. Etwas auf rein menschliche Weise wollen, offenbart einfach eine fleischliche oder tierische Neigung; will man aber nur wie Gott will, dann wird der falsche Wille durch das Gemüt des Christus geheilt; man erlangt die Macht des Christus über Sünde, Krankheit und den Tod und wird von dem Gesetz der unendlichen Harmonie regiert. Kurz, es handelt sich um das, was Paulus mit den Worten ausdrückt: „Verändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, auf daß ihr prüfen möget, welches da sei der gute, wohlgefällige und vollkommene Gotteswille.“
Das verfehlte Streben, sich dem Willen Gottes zu unterwerfen, wenn sich dieser Wille vermeintlich durch Krankheit und Tod kundtut, bewirkt bei der Menschheit vor allem die Furcht vor dem, was nur eine Erfahrung des menschlichen Gemütes ist, ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit einer feindlichen Allmacht gegenüber. Wenn die Sterblichen die Annahme aufgeben, daß Leiden dem Willen Gottes gemäß sei, weil sie einsehen gelernt haben, daß Leiden Kundgebungen des menschlichen Gemütes sind, dann werden sie ihre Furcht vor dem Bösen verlieren und danach trachten, die Triebkraft des sterblichen Gemütes gegen die Macht und Weisheit des unfehlbaren Prinzips umzutauschen. Auf Seite 208 von „Miscellaneous Writings“ schreibt Mrs. Eddy: „Die Sterblichen brauchen sich nur dem Gesetz Gottes unterzuordnen, mit demselben in Einklang zu kommen und Seinen Willen geschehen zu lassen. Diese ununterbrochene Tätigkeit des Gesetzes der göttlichen Liebe gibt den Mühseligen und Beladenen Ruhe. Wer aber ist bereit, Seinen Willen zu tun oder geschehen zu lassen? Die Sterblichen folgen ihrem eigenen Willen und sind somit den göttlichen Vorschriften ungehorsam.“
Es scheint den Sterblichen sehr schwer zu fallen, sich dem Willen Gottes zu unterwerfen, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil der Gehorsam gegen das göttliche Prinzip die Vernichtung des fleischlichen Gemütes bedeutet. Und doch ist das fleischliche Gemüt das einzige Hindernis, das der von den Menschen ersehnten Harmonie im Wege steht. Man muß fortwährend zwischen Gottes Willen und dem sterblichen Gemüt unterscheiden, denn ersterer ist wirklich, letzteres unwirklich, ersterer ist gut, letzteres böse; und da Gottes Wille gut ist, so besteht des Menschen Hoffnung auf Harmonie einzig und allein darin, daß er den Forderungen des göttlichen Prinzips gehorcht. Die Erkenntnis, daß das sterbliche Gemüt und seine Kundgebung, die Materie, unwirklich sind und daß der Geist oder das göttliche Gemüt die einzige Wirklichkeit ist, beschränkt keineswegs die Fähigkeit eines Menschen; vielmehr befreit und fördert sie seine Kräfte, denn er identifiziert sich mit der unendlichen Intelligenz und wächst über die Schmerzen und Freuden der Sinne hinaus. „Der Wille Gottes oder die Kraft des Geistes,“ schreibt Mrs. Eddy (Miscellaneous Writings, S. 185), „bekundet sich als Wahrheit und durch Gerechtigkeit — nicht als Materie oder durch die Materie,— und sie entkleidet die Materie aller Ansprüche, aller Fähigkeit oder Unfähigkeit, aller Schmerzen oder Freuden.“
Ganz einerlei, welcher Art die menschliche Erfahrung ist, der Wille Gottes bleibt ewiglich gut. Wenn dieses Gute sich zu verzögern scheint, so beweist das nicht, daß Gott Seine. Segnungen vorenthält. Das geistig Gute ist stets vorhanden und stets wirksam; es scheint sich nur zu verzögern, weil der Mensch erst die Fähigkeit entwickeln muß, das geistig Gute zu empfangen. Gott wird in den Eigenschaften offenbar, die das göttliche Gemüt wiederspiegeln, und diese Eigenschaften erreicht man nur vom geistigen Standpunkt aus und durch ernstes, beharrliches Streben, den sinnlichen, menschlichen Willen daranzugeben und immer mehr das geistige Bewußtsein oder den Christus zu erlangen, der völlig eins ist mit dem göttlichen Willen; denn, wie Jesus der Christus erklärte, Harmonie oder der Himmel wird von denen verwirklicht, „die den Willen tun meines Vaters im Himmel.“
