Die menschliche Denkart hält, mit der ihr eigenen Ungenauigkeit, das Wort Sanftmut für gleichbedeutend mit Zaghaftigkeit und gebraucht das eine wie das andere mit derselben Geringschätzung. Als aber Christus Jesus sagte: „Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen,“ meinte er offenbar nicht: „Selig sind die Zaghaften; denn sie werden das Erdreich besitzen.“ Die Zaghaften haben noch nie etwas geerbt, außer den unausbleiblichen bösen Folgen der Feigheit, wohingegen die Bibel und die Geschichte voll ist von Beweisen, daß unerschrockene Sanftmut reichlich belohnt wird.
Das Wörterbuch nähert sich der metaphysischen Auffassung, wenn es die Sanftmütigen als solche definiert, die „nicht leicht gereizt und aufgebracht“ werden, sondern „Beleidigungen gegenüber geduldig“ sind; und die Zaghaften definiert dieses Wörterbuch als solche, „denen es an Mut fehlt, der Gefahr zu begegnen, oder die sich leicht fürchten.“ Diese Definition von Sanftmut ist jedoch unvollständig, denn sie bringt nicht die hohe Art des Mutes zum Ausdruck, welche von denen verlangt wird, die wahrhaft demütig sind. Christus Jesus war tatsächlich „Beleidigungen gegenüber geduldig;“ aber trotz all dem Hohn, mit dem er überhäuft wurde, konnte man ihm nie vorwerfen, daß es ihm „an Mut“ fehlte, „der Gefahr zu begegnen.“ Wäre er zaghaft gewesen, so hätte er wohl eher sein Verständnis des Prinzips auf das Spiel gesetzt als die Feuerprobe auf Golgatha durchzumachen. Die Zaghaften halten das Böse für wirklich und das Leben für materiell, weshalb sie oft zurückschrecken, wenn sie ihre Überzeugungen beweisen sollen, weil ihnen das Pein oder Verlust bereiten könnte.
Vermöge seiner geistigen Erkenntnis sah Christus Jesus die Nichtsheit dessen, was mit solcher Dreistigkeit Macht beanspruchte. Aber obgleich er furchtlos die Wahrheit verkündete und den Irrtum tadelte, weigerte er sich doch, das Böse als einen Menschen zu personifizieren und diesen Menschen niederzuschlagen, um sich zu verteidigen oder das Gute in Schutz zu nehmen. Die Welt kommt nur sehr langsam zu dieser Erkenntnis und folgt dem Meister ebenso langsam in seinen Demonstrationen. „Manchmal möchte es so scheinen,“ schreibt Mrs. Eddy in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ (S. 343), „als ob die Wahrheit deshalb verworfen würde, weil Sanftmut und Geistigkeit die Bedingungen für ihre Annahme sind, während die Christenheit im allgemeinen so viel weniger verlangt.“
Das menschliche Denken ärgert sich daher, wenn die Sanftmütigen die gegen sie geführten Streiche nicht zurückgeben. Diese Haltung dem Bösen gegenüber wird für zahme Unterwürfigkeit gehalten. Und doch war Christus Jesus der kräftigste und erfolgreichste Gegner, den das Böse je gehabt hat. Er hatte die absolute, die wissenschaftliche Erkenntnis Gottes, des Guten erlangt, welche ihn befähigte, das Böse nach einem Verfahren zu überwinden, das dem menschlichen Auge verborgen war. Gerade bei der Gelegenheit, als das menschliche Denken sein Verhalten als zahme Unterwürfigkeit unter das Böse bezeichnete, das ihn zu vernichten drohte, vernichtete er das Böse. Von seinem Verhalten zur Zeit, als er verraten wurde und die Versuchung stark gewesen sein muß, Widervergeltung zu üben, schreibt Mrs. Eddy (Wissenschaft und Gesundheit, S. 48): „Judas führte die Waffen der Welt. Jesus hatte deren nicht eine, auch wählte er nicht die Verteidigungsmittel der Welt.“
Christliche Wissenschafter lernen bei ihrer gesamten Tätigkeit den Unterschied zwischen Sanftmut und Zaghaftigkeit kennen. Wenn im Geschäft, im Heim oder in der Kirche Überzeugungen auf die Probe gestellt werden, sucht sich Zaghaftigkeit als Sanftmut darzustellen und dadurch eine Abweichung vom Standpunkt der Wahrheit zu bewirken, oder die Regung, die Wahrheit zu verkündigen, zu lähmen. Wir können jedoch stets das Gold der Sanftmut von den Schlacken der Zaghaftigkeit trennen, wenn wir uns fragen, ob wir uns fürchten, für die Wahrheit einzutreten, und ob wir, nachdem wir dies getan haben, mutig genug sind, unseren Standpunkt zu behaupten, ohne auf die gegen uns gerichteten Angriffe mit Bitterkeit zu erwidern.
Der Lebenslauf Mrs. Eddys, der Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, bietet uns eindringliche Beweise von der Wahrheit der dritten Seligpreisung. Sanftmut kennzeichnete ihr Verhalten sowohl während ihrer Prüfungszeit wie in den Tagen ihres Triumphes, und sie besaß das Erdreich, nicht nur in dem Sinne, daß sie für das menschliche Dasein Überfluß demonstrierte, sondern auch in dem wahren Sinn von Erde, gemäß der Definition auf Seite 585 von Wissenschaft und Gesundheit: „Eine Kugel; eine Verbildlichung der Ewigkeit und Unsterblichkeit, die zugleich ohne Anfang oder Ende sind. Für den materiellen Sinn ist die Erde Materie; für den geistigen Sinn ist sie eine zusammengesetzte Idee.“
Denn so du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, daß dich die Ströme nicht sollen ersäufen; und so du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen.— Jesaja 43:2.
