Es gibt wohl kein Problem, das der Menschheit in den letzten Jahren so viel zu schaffen gemacht hat, so viel Irrtum an die Oberfläche des sterblichen Gemütes gebracht hat, wie der jetzt beendete Weltkrieg. Und wenn er auch nach außen hin beendet scheint, so werden seine unheilvollen Wirkungen doch keineswegs mit der Unterzeichnung des Friedensvertrages vernichtet. Ein Irrtum, der so lange Zeit das sterbliche Gemüt beherrscht hat, ist nicht mit einem Federstrich zu beseitigen, sondern es erfordert eine treue, klare und zielbewußte Arbeit, um seine Spuren zu beseitigen, die unheilvollen Spuren, die während seiner Dauer — und auch heute noch — das klare Verständnis scheinbar verdunkelt, die Grenzen zwischen Recht und Unrecht, zwischen Gut und Böse verwischt und die ganze große Verwirrung in allen sittlichen Begriffen verursacht haben.
Dank sei Gott, daß Er uns in der Christian Science das stärkste und sicherste Mittel in die Hand gegeben hat, den Irrtum zu erkennen, ihn bloßzustellen und zu zerstören. Dank sei der Entdeckerin der Christian Science, daß sie uns auf jeder Seite ihrer Schriften immer und immer wieder zeigt, wie wir uns den Folgen des Irrtums entziehen können, wenn wir seine Unwirklichkeit erkennen und unsere Blicke auf die Wirklichkeit, Wahrheit, Liebe und Harmonie richten. Freuen wir uns, daß wir als Anhänger und Schüler der Christian Science berufen sind, den Irrtum in seinen feinsten, verborgensten und weitestverzweigten Erscheinungen zu erkennen und bloßzustellen, und daß wir an seiner Zerstörung mitarbeiten dürfen. „Die Waffen unserer Ritterschaft sind nicht fleischlich, aber mächtig vor Gott, zu zerstören Befestigungen.“ Dieser schöne Spruch, der früher das Geleitwort für den Herold der Christian Science war, sagt deutlich, daß nur durch geistige Waffen die feindlichen Befestigungen zerstört werden können. Wer sind aber nun unsere Feinde, und welche Befestigungen haben sie errichtet, die wir mit den Waffen des Geistes zerstören sollen? Auf die erste Frage gibt Mrs. Eddy in ihrem Artikel: „Love Your Enemies“ (Miscellaneous Writings, S. 10) die Antwort: „Wir haben keine Feinde.“ Menschen sind nicht unsere Feinde; denn Mensch ist Idee des einen Gottes. Wir leben in einer unzerstörbaren Brüderschaft mit dem Prinzip, denn „in ihm leben, weben und sind wir.“ Und wie der Mensch nicht unser Feind sein kann, können ebenso wenig ganze Völker unsere Feinde sein, denn die wahre Nation ist auch Idee die das Prinzip ausdrückt. Aber wer sind denn nun unsere Feinde? Der Irrtum, die Lüge. „Er ist ein Lügner und ein Vater derselben,“ sagt Jesus. Das ist der Feind, den wir bekämpfen müssen, denn er hat uns den furchtbaren Weltkrieg gebracht. Bevor wir den Irrtum überwinden können, müssen wir ihn bloßstellen. Folgen wir ihm einmal in seine Schlupfwinkel, wo er sich in seiner armseligen Nacktheit verbirgt, ehe er mit den falschen, geborgten Gewändern der Vaterlandsliebe, der Treue, der Pflichterfüllung vor uns hintritt und große Worte redet, damit wir nicht gewahr werden, wie er diese Gewänder der reinsten und schönsten Gottesgedanken mit seiner Lüge besudelt.
Und was verbirgt sich in dieser Höhle? Der Egoismus steht da, die elende, nackte Selbstsucht. „Mir müßt ihr folgen,“ ruft sie. „Ich gebe euch die Macht, ich mach euch zu Herren. Glaubt nicht, daß das Gute Macht ist, das ist ein veralteter Standpunkt. Nur ich habe die Macht, und ich gebe sie euch, wenn ihr mir folgt. Was schadet es, wenn du deinem Bruder das Stück Brot fortnimmst, mit dem er seinen Hunger stillen möchte! Wenn du nur satt wirst! Was schadet es, wenn er vor Hunger stirbt! Wenn du nur lebst, und seine Macht, sein Besitz, die fallen die dann auch zu, und du bist doppelt mächtig! Er kann ja auch für sich selbst sorgen, sorge du nur für dich.“ So sprach der Egoismus Jahre und Jahrhunderte hindurch, und seine Lehren wüteten unter den Menschen. Sie verdunkelten das klare Bewußtsein von Gottes Allmacht, Allgegenwart und allerhaltenden Liebe und erfüllten es mit den Begriffen einer materiellen Macht, sie erweckten die Liebe zur Macht, zum Besitz, und das Streben nach diesen Götzen. Sie richteten Schranken zwischen den einzelnen Menschen und Schranken zwischen den Völkern auf. Sie lehrten die Menschen und die Völker, daß sie entgegengesetzte Bedürfnisse und Interessen hätten, daß sie nur durch Anwendung materieller Machtmittel zu ihrem Rechte kommen könnten, und daß der Stärkste an Besitzung und physischer Kraft die größte Macht hätte und der Sieger sein würde.
So betörte der Irrtum die Menschen, und dann legte er die geborgten Gewänder an. Er sagte: Dein Vaterland, deine Heimat, dein Weib und deine Kinder sind bedroht, du mußt sie schützen und verteidigen, die Waffen in der Hand. Er hüllte sich in das Gewand der Treue und sprach: Dein Volk braucht dich, du mußt treu zu ihm stehen, du mußt ihm alles opfern, was du hast, deinen Besitz, deine Gesundheit, dein Leben; so erfüllst du Gottes Gebot: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Du mußt selbstlos für dein Volk einstehen, und für dein Volk kämpfen. Die Menschen auf der anderen Seite, die sind nicht deine Brüder, die sind nicht Menschen wie du, die sind deine Feinde, die vernichtet werden müssen. Und die Menschen glaubten dem Irrtum, sie glaubten das Gute und Rechte zu tun, indem sie seinen Irrlehren folgten, sie opferten was sie hatten — einer Lüge!
Und nun das Schlimmste. Wie einst beim Turmbau zu Babel der Irrtum die Sprache der Menschen verwirrte, daß sie einander nicht mehr verstanden, so spricht auch jetzt eine Nation in ihrer Sprache welche die Leute auf der anderen Seite nicht verstehen, und ein jedes Volk glaubte, daß seine Sache allein die rechte und gute sei, und daß es Gottes Arbeit tat, wenn es alles aufbot, um die Gegner zu vernichten. Jedes Volk glaubte Gott, das Gute, nur auf seiner Seite zu haben, und sah alles Unrecht, alles Verbrechen, alle Schuld nur auf der Seite der Gegner. Und sie haben vergessen, daß Gott doch alle Menschen in Seinem Bilde geschaffen hat!
Wir wollen hier nicht von den sonstigen Giftfrüchten des Irrtums sprechen, von den Menschen, die in ihm ihren Vorteil suchten, die sich allen Verpflichtungen zu entziehen wußten und bewußt im Trüben fischten. Wir wollen hier nur die Erscheinungsformen des Irrtums zeigen, die auch die Guten täuschen, daß sie für gutes Gold halten, was doch nur schlechte Scheidemünze ist.
Es liegt etwas unendlich Trauriges in der Erkenntnis, daß die vielen, die den Lügenbotschaften des Krieges glaubten, ihr Leben, ihren Frieden, das Liebste, was sie auf Erden besaßen, einem Irrtum, einer Lüge, einer Unwirklichkeit opferten. Aber auf der anderen Seite ist es auch etwas Befreiendes, Erhebendes, wenn wir uns klar machen, daß die Ursache zu dem schrecklichen Unheil nicht in der Wirklichkeit, nicht in der göttlichen Wahrheit begründet ist, daß sie dem Nichts entsprungen und kraft göttlichen Gesetzes wieder in das Nichts zurückkehren muß. Gott ist die einzige Ursache und die einzige Wirkung. In der Liebe ist kein Raum für die Wurzeln des Krieges, und deshalb können sie auch in der Wiederspiegelung dieses Prinzips, dem in Gottes Bild und Gleichnis geschaffenen Menschen, nicht enthalten sein. Lasset uns frohlocken und dankbar sein, daß wir diese Erkenntnis gewonnen haben, denn nun wissen wir, daß wir diesen Irrtum und seine verderblichen Folgen aus dem Menschen herausreißen können, so fest sie sich auch anzuklammern scheinen.
Einen wundervollen Weg zeigt uns unser Lehrbuch (Wissenschaft und Gesundheit, S. 201): „Der Weg, den Irrtum aus dem sterblichen Gemüt zu entfernen, ist der, die Wahrheit durch Fluten der Liebe einströmen zu lassen.“ Und wie ein warmer, befreiender Strom kommen diese Worte zu uns. Sie werden unsere Befreier und Wegweiser, wenn wir an die Zerstörung des Irrtums gehen. Nur das Gute überwindet das Böse. Nur Liebe, viel Liebe kann den Menschen wieder das Vertrauen zu einander geben. Nur wenn wir uns immer vergegenwärtigen, daß der einzige Mensch, und die einzige Nation Gottes Bild und Gleichnis ist, können wir selbst in all unserem Denken und Handeln dieses Gottesbild zum Ausdruck bringen. Nur dann können wir Gerechtigkeit üben, nur dann können wir an der Zerstörung der Irrtümer mitarbeiten, die die Menschheit bedrücken, und die ihren Höhepunkt in dem Weltkriege gefunden haben. „Ein jeglicher sei gesinnet, wie Jesus Christus auch war,“ das muß unser Wahlspruch sein. Die Befreiung der Menschheit kann nur von der Befreiung eines jeden einzelnen ausgehen, und deshalb muß jeder einzelne, und besonders jeder Anhänger der Christian Science an diesem Werke mitarbeiten. Prüfen wir unsere Gedanken, Empfindungen, Bestrebungen und unser Handeln jeden Tag und jeden Augenblick, ob nicht ein Körnchen Irrtum in ihnen enthalten ist, das wachsen und Unheil anrichten könnte. Wenn wir uns klar machen, wie tief und wie weit verzweigt der Irrtum in diesem Krieg seine Wurzeln ausgesandt hat, kann keine Lupe zu scharf für unsere Selbstbeobachtung sein. Und wenn wir ehrlich suchen und ehrlich arbeiten, dann wird der Irrtum seine scheinbare Macht über uns für immer verlieren; wir werden immer freier werden, immer mehr darüber stehen, und dann wird unser Leben und Handeln so viel Wahrheit, so viel Liebe ausstrahlen, daß auch andere Menschen von ihrer Macht ergriffen und sich vor ihr beugen werden. Der Kraft des Guten kann auf die Dauer nichts widerstehen; sie ist unser Bundesgenosse und räumt alle Hindernisse aus unserem Wege. Und seien wir getrost: Wir tun Gottes Arbeit, wenn wir an der Zerstörung des Irrtums arbeiten, und „Gott ist's, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen.“
