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Das Buch Hiob

Aus der November 1922-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Eine der wichtigsten und zugleich schwierigsten Aufgaben aller Zeiten ist es gewesen, der Menschheit den Unterschied zwischen einer wahren und falschen Gotteslehre, d.h. zwischen einer richtigen und falschen Auffassung von Gott klar zu machen. Das Buch Hiob legt diesen Unterschied deutlich klar. Es ist nicht nur, wie so viele glauben, ein schönes Gedicht oder Drama, aus dem man je nach Bedarf Stellen anführen kann, sondern es erfüllt in seiner Einzigkeit einen ganz besonderen Zweck: es enthält eine klare Darlegung der absoluten Unzulänglichkeit von Religionssystemen, die einen unbeweisbaren Gottesglauben lehren oder eine Auffassung von Gott darbieten, die sich ganz oder teilweise auf den Augenschein der körperlichen Sinne stützt. Nebenbei darf gesagt werden, daß das Buch Hiob eine der ersten Aufzeichnungen enthält über die Tatsache, daß die Macht des geistigen Verständnisses Furcht und allen Irrtum zu überwinden imstande ist. Coleridge sagt: „Das Buch Hiob ist ein arabisches Gedicht, dessen Ursprung weiter zurückgeht als das mosaische Gesetz. Es beschreibt das Gemüt eines guten Mannes, der noch nicht durch eine wirkliche Offenbarung erleuchtet war, der jedoch nach einer solchen trachtete.“

Ein Verständnis von Gott gewinnt man einzig und allein auf dem Wege geistiger Offenbarung, mit anderen Worten, es kommt einem nie durch die körperlichen Sinne. Geist, der nie in der Materie sein kann und nie von materiellen Annahmen beeinflußt wird, gibt den nach Gerechtigkeit hungernden und dürstenden Herzen seine eigene geistige Offenbarung und lehrt die Menschheit das Wesen der Wirklichkeit verstehen. Coleridge erklärte mit Recht, daß Hiob nicht durch eine Offenbarung erleuchtet war, sondern ernstlich nach einer solchen trachtete. Darin liegt der Grund, warum das Buch Hiob die Menschheit so sehr anspricht; denn solange uns die Offenbarwerdung der Wahrheit durch die Christliche Wissenschaft noch nicht gefunden hat, kann wohl von uns allen gesagt werden, daß wir dem Hiob gleichen, der noch keine Offenbarung erhalten hatte. Und gesegnet sind wir, wenn auch wir nach einer solchen streben.

Wir wollen hier einige hervorragende Eigenschaften Hiobs erwähnen, die auch anderen helfen können, den wahren Gott zu finden. Trotz seiner schweren seelischen Kämpfe hatte Hiob nie auch nicht den leisesten Zweifel an der großen Tatsache, daß es einen Gott gibt. Man hätte nie einen Gottesleugner aus ihm machen können. Sein tiefes Sehnen nach Gott ist in seinem Ausruf zusammengefaßt: „Ach daß ich wüßte, wie ich ihn finden... möchte.“ Ferner findet sich nicht der geringste Hinweis darauf, daß sich Hiob durch Anwendung materieller Mittel Linderung zu verschaffen suchte — durch ärztliche Hilfe, wie wir es heute nennen würden. Er war vollständig überzeugt — und das sollten alle, die bei der Christlichen Wissenschaft Heilung suchen, beachten —, daß die Heilung seiner körperlichen Krankheiten allein von seiner richtigen Gotteserkenntnis abhing. Hiob sah, wenn auch nur durch einen Schleier, daß ein richtiges Verständnis von Gott ihm Gesundheit bringen würde. Zu dieser Einsicht war er allerdings nicht durch solche Reden gekommen, wie sie ihm seine drei Freunde hielten. Sie war vielmehr das Ergebnis seines eigenen tiefen Nachdenkens, und er hielt mit lobenswerter Zähigkeit daran fest, obwohl seine Freunde ihm Vorwürfe darüber machten. Gerade diese vernunftgemäßen Schlußfolgerungen sind es, die dem Buch Hiob so große Bedeutung verleihen und es poetisch interessant machen. Sie erheben uns zu einer neuen und höheren Auffassung von Gott und vernichten die falschen Annahmen der körperlichen Sinne.

Wie schon erwähnt, versuchte Hiob sich durch logisches Denken aus dem Netz einer falschen Gotteslehre sozusagen hinauszufolgern. Und der poetischen Behandlung dieses menschlichen Strebens verdankt das Buch die hervorragende Stellung, die es in der Weltliteratur einnimmt. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, übertrifft es wohl die dramatischen Gedichte aller Sprachen. Das Buch oder die Dichtung zerfällt in fünf natürliche Teile: die Einleitung, die Reden des Hiob und seiner drei Freunde Eliphas, Bildad und Zophar, die Rede des Elihu, die Rede des Herrn und das Nachwort.

In der Einleitung haben wir die Geschichte oder Legende von Hiob. Wir lesen da, daß Hiob ein sehr frommer Mann war, daß aber Satan — der Verkläger —Gott veranlaßt hatte, dem Bösen (Satan) zu gestatten, Hiobs Besitztümer samt seinen Kindern zu vernichten und Hiob selbst mit einer gefürchteten Krankheit zu belasten. Hieraus ist leicht zu ersehen, daß die Einleitung nichts anderes ist als eine Schilderung oder ein Bild von Hiobs Gemütszustand, oder wir können auch sagen, von seiner Unkenntnis von Gott.

Die Einleitung entwirft gleichzeitig ein genaues Bild von der heutzutage fast allgemein herrschenden Auffassung von Gott. Satan oder das Böse wird als wirklich betrachtet, als mit Macht ausgerüstet, sich Gott zu widersetzen. Ja noch mehr, es wird angenommen, daß Satan mit dem Einverständnis Gottes arbeitet. Gott scheint somit die teuflischsten Mittel anzuwenden, um die Rechtschaffenheit Seiner Kinder auf die Probe zu stellen. Das Buch Hiob weist also deutlich darauf hin, daß eine falsche Gotteslehre die Hauptverantwortung trägt für den Glauben der Menschheit, daß Krankheit, Sünde und Tod wirklich sind, daß sie als die unmittelbaren Vertreter Gottes wirken und folglich göttliche Genehmigung haben. Es hebt auch die Notwendigkeit hervor, die ganze Falschheit einer solchen Gotteslehre zu erkennen und sie im Bewußtsein zu zerstören. Da Hiob anfänglich alle Geschehnisse um ihn her von dem Standpunkt aus zu erklären suchte, daß die Materie wirklich und von Gott erschaffen war, mußte er logischerweise zu dem Schluß kommen, daß Gott ein Gott des Zornes sei. Diese falsche materielle Logik führte ihm die große Notwendigkeit vor Augen, ein höheres oder geistigeres, Verständnis von Gott zu erlangen, und das verursachte den scheinbaren Kampf, den das Buch Hiob beschreibt.

Wir kommen nun zu den Reden der drei Freunde und zu Hiobs Gegenreden. Man sieht gleich, daß Eliphas, Bildad und Zophar die Befürworter einer falschen oder materiellen Gotteslehre sind. In keiner ihrer Reden ist die Möglichkeit einer Heilung auch nur angedeutet. Auch äußern sie nicht einmal den Wunsch, daß eine Linderung der Schmerzen stattfinden möge. Im Gegenteil, sie ergehen sich in viel überflüssiges Verdammen. Durchwegs sehen sie nur einen unvollkommenen Menschen vor sich. Folglich ist auch ihre Auffassung von Gott falsch; denn wer den Menschen als gefallen und unvollkommen betrachtet, der sieht auch Gott als unvollkommen an. Mrs. Eddy schreibt auf Seite 467 von „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“: „Wenn wir in der Wissenschaft des Gemüts von Ursache auf Wirkung schließen, fangen wir mit Gemüt an, das durch die Idee, die es ausdrückt, verstanden werden muß und nicht von seinem Gegenteil — der Materie aus — erfaßt werden kann.“ Gott, dessen „Augen sind rein, daß [er] Übles nicht sehen“ mag, scheint diesen Ratgebern zufolge wenig anderes zu sehen als Sündhaftigkeit, scheint so beschäftigt damit zu sein, die Übeltäter zu bestrafen, daß man sich wirklich wundert, ob Er für die Gerechten noch Zeit übrig hat. Aber Hiob wollte die Wahrheit über den Allmächtigen kennen lernen; er trachtete nach einem beweisbaren Verständnis von Gott. Hiobs Freunde hatten dieses Bedürfnis nicht; sie glaubten, sie verständen Gott und hatten daher kein Bedürfnis nach einer höheren Auffassung von Ihm. Das ist das Wesen der falschen Gotteslehre: sie ist so blind in ihrer Unwissenheit, daß sie die Notwendigkeit der Demonstration oder eines geistigeren Verständnisses von Gott gar nicht empfindet. Kein Wunder also, daß Hiob den Rat seiner Freunde als wertlos betrachtete.

Die Antwort, die Hiob seinen drei Freunden gab, mag hart klingen; es mag scheinen, als ob er Gott tadele. In Wirklichkeit jedoch beschuldigte er nicht Gott, sondern die irrige Auffassung von Gott, die ihm die falsche Gotteslehre beigebracht hatte und die seine drei Freunde so eifrig befürworteten. Alle drei hielten an dem die falsche Gotteslehre stets begleitenden Glauben fest, daß sich Gott des Bösen bedient, um einen guten Zweck zu erreichen. Dadurch, daß sich Hiob gegen das Leiden auflehnte und sich nicht in dasselbe ergab, bewies er eine gesunde Denkweise. Dieses Sich-auflehnen trieb ihn immer näher zu der Wahrheit, der Wahrheit über Gott sowohl als über das Leiden; denn er mußte einsehen lernen, daß das Leiden nicht von Gott kommt sondern das Ergebnis der falschen, fleischlichen Annahme einer von Gott getrennten Macht ist. Hiob verabscheute die Auffassung von Gott, wie eine falsche Lehre sie darbot. Er verwarf sie schonungslos, und zwar dadurch, daß er einen materiellen Begriff von Gott und Seiner Schöpfung verneinte. Damit tat er genau dasselbe, was jeder Schüler der Christlichen Wissenschaft tut, wenn er erklärt, daß „kein Leben, keine Wahrheit, keine Intelligenz und keine Substanz in der Materie“ ist, wie Mrs. Eddy auf Seite 468 von „Wissenschaft und Gesundheit“ sagt.

Erwähnt sei hier auch der große Unterschied zwischen der Lehre Christi Jesu und dem Kirchentum, das die drei Freunde Hiobs sowie deren zahlreiche Anhänger in der heutigen Zeit verkünden. Jesus sagte: „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet.“ Schonungslos verdammte er wohl das Böse, aber nicht die Personen. Oft hatte er lange Gespräche mit seinen Gegnern, um ihnen ihre falsche Denkweise vor Augen zu führen. Aber er vergab ihnen stets, ja sogar am Kreuz.

In der Rede des Elihu im dreiunddreißigsten Kapitel kommt eine richtige Auffassung von Gott zum Vorschein. Elihu hält fest an der unendlichen Gerechtigkeit und Weisheit Gottes, aber nicht um dadurch das Materielle oder Böse zu rechtfertigen, das den körperlichen Sinnen zufolge scheinbar vorhanden ist. Der Auffassung Elihus nach ist es ganz und gar unmöglich, daß zwischen Gott und der Annahme vom Bösen irgendein Zusammenhang bestehen kann. „Es sei ferne,“ sagt er, „daß Gott sollte gottlos handeln und der Allmächtige ungerecht.“ Elihu betont ferner, daß wir Gott nicht durch die Materie finden oder Ihn mit unseren körperlichen Sinnen erkennen können. Er hält somit Hiob einen unendlich vollkommenen Gott vor Augen, einen Gott der vollkommenen Weisheit. Mrs. Eddy schreibt auf Seite 7 von „Unity of Good“: „Die Anerkennung der Vollkommenheit des unendlichen Unsichtbaren verleiht eine Macht, wie nichts anderes es vermag.“ Genau derselbe Gedanke kommt in jeder Erklärung Elihus über Gott zum Ausdruck. Er stellt Ihn dar als unendliche Gerechtigkeit, unendliches Erbarmen, unendliche Erkenntnis oder unendliche Weisheit. Der Mensch, erklärt Elihu weiter, wird von seinem geistigen Verständnis von Gott regiert. Auf diese Weise kommt Hiob zu der Erkenntnis eines anbetungswürdigen, eines vollkommenen Gottes und eines zu Seinem Bild und Gleichnis geschaffenen Menschen.

Die den Reden Elihus folgenden Kapitel enthalten die Reden des Herrn, die von der Weisheit Gottes und Seiner unendlichen Fürsorge für Seine Schöpfung zeugen. Die Zerstörung ist verschwunden, und an ihrer Stelle entfaltet sich das Bild einer so glorreichen Schöpfung, daß Hiob überwältigt ist von all der Weisheit und Liebe, die dabei offenbar wird. Er nimmt die neu-alte Idee von Liebe in sich auf. Nachdem das Verständnis von der unendlichen und unantastbaren Vollkommenheit Gottes in ihm erwacht ist, gewinnt er eine neue Auffassung von der Schöpfung, in der die wunderbare Fürsorge Gottes für Seine Welt offenbar wird: die ganze Erde strahlt im Lichte der göttlichen Liebe. Ist dies nicht immer der Fall, wenn die Wahrheit durch geistiges Erwachen offenbart wird und der neue Himmel und die neue Erde in der Wissenschaft zu uns herabkommen?

Im Nachwort erfahren wir, daß die vollständige Heilung Hiobs stattgefunden hat. Dies beweist, daß Hiobs Erkenntnis erleuchtet und sein Bewußtsein gereinigt worden war,— daß er sich von der Betrachtung des Unvollkommenen und Unwirklichen zu der Erkenntnis des Vollkommenen und Wirklichen, von dem Furchterregenden und Zerstörerischen zu dem Liebenden und Erhaltenden erhoben hatte. Gott befahl alsdann den drei Freunden Hiobs, für sich selber Brandopfer darzubringen, und Hiob gebot Er, für sie zu beten. Hiobs Gebet, nunmehr das Gebet der Erkenntnis, war Gott gefällig, nicht aber dasjenige seiner Freunde, denn sie hatten „nicht recht von mir geredet wie mein Knecht Hiob.“ Was anderes kann das bedeuten, als daß Gott die von ihnen so nachdrücklich befürwortete falsche Lehre rückhaltlos verwarf?

Das Buch Hiob ist eine logische Darstellung der Veränderung, die im menschlichen Bewußtsein in bezug auf die Auffassung von Gott vor sich geht, eine Darstellung der Erhebung des Bewußtseins von einer sterblichen, unvollkommenen und schulmäßigen auf eine unsterbliche, vollkommene und wissenschaftliche Grundlage. Es zeigt, wie unmöglich es ist, Gott, das Gute, zu verehren oder anzubeten, bevor unsere Auffassung von Ihm vollkommen, d.h. logisch und wissenschaftlich richtig ist. Glaubensbekenntnisse und Formenwesen können die Menschen wohl dazu bringen, Gott zu fürchten, nie aber Ihn zu verehren, viel weniger noch Ihn zu lieben. Um Gott anbeten zu können, müssen wir Ihn als das vollkommene göttliche Wesen, als unendliche Liebe, erkennen und schätzen. Zu dieser Einsicht mußte Hiob kommen, ehe er geheilt werden konnte, und zu dieser Einsicht verhilft das Buch Hiob den Menschen auch heutzutage.

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