Eine der wichtigsten und zugleich schwierigsten Aufgaben aller Zeiten ist es gewesen, der Menschheit den Unterschied zwischen einer wahren und falschen Gotteslehre, d.h. zwischen einer richtigen und falschen Auffassung von Gott klar zu machen. Das Buch Hiob legt diesen Unterschied deutlich klar. Es ist nicht nur, wie so viele glauben, ein schönes Gedicht oder Drama, aus dem man je nach Bedarf Stellen anführen kann, sondern es erfüllt in seiner Einzigkeit einen ganz besonderen Zweck: es enthält eine klare Darlegung der absoluten Unzulänglichkeit von Religionssystemen, die einen unbeweisbaren Gottesglauben lehren oder eine Auffassung von Gott darbieten, die sich ganz oder teilweise auf den Augenschein der körperlichen Sinne stützt. Nebenbei darf gesagt werden, daß das Buch Hiob eine der ersten Aufzeichnungen enthält über die Tatsache, daß die Macht des geistigen Verständnisses Furcht und allen Irrtum zu überwinden imstande ist. Coleridge sagt: „Das Buch Hiob ist ein arabisches Gedicht, dessen Ursprung weiter zurückgeht als das mosaische Gesetz. Es beschreibt das Gemüt eines guten Mannes, der noch nicht durch eine wirkliche Offenbarung erleuchtet war, der jedoch nach einer solchen trachtete.“
Ein Verständnis von Gott gewinnt man einzig und allein auf dem Wege geistiger Offenbarung, mit anderen Worten, es kommt einem nie durch die körperlichen Sinne. Geist, der nie in der Materie sein kann und nie von materiellen Annahmen beeinflußt wird, gibt den nach Gerechtigkeit hungernden und dürstenden Herzen seine eigene geistige Offenbarung und lehrt die Menschheit das Wesen der Wirklichkeit verstehen. Coleridge erklärte mit Recht, daß Hiob nicht durch eine Offenbarung erleuchtet war, sondern ernstlich nach einer solchen trachtete. Darin liegt der Grund, warum das Buch Hiob die Menschheit so sehr anspricht; denn solange uns die Offenbarwerdung der Wahrheit durch die Christliche Wissenschaft noch nicht gefunden hat, kann wohl von uns allen gesagt werden, daß wir dem Hiob gleichen, der noch keine Offenbarung erhalten hatte. Und gesegnet sind wir, wenn auch wir nach einer solchen streben.
Wir wollen hier einige hervorragende Eigenschaften Hiobs erwähnen, die auch anderen helfen können, den wahren Gott zu finden. Trotz seiner schweren seelischen Kämpfe hatte Hiob nie auch nicht den leisesten Zweifel an der großen Tatsache, daß es einen Gott gibt. Man hätte nie einen Gottesleugner aus ihm machen können. Sein tiefes Sehnen nach Gott ist in seinem Ausruf zusammengefaßt: „Ach daß ich wüßte, wie ich ihn finden... möchte.“ Ferner findet sich nicht der geringste Hinweis darauf, daß sich Hiob durch Anwendung materieller Mittel Linderung zu verschaffen suchte — durch ärztliche Hilfe, wie wir es heute nennen würden. Er war vollständig überzeugt — und das sollten alle, die bei der Christlichen Wissenschaft Heilung suchen, beachten —, daß die Heilung seiner körperlichen Krankheiten allein von seiner richtigen Gotteserkenntnis abhing. Hiob sah, wenn auch nur durch einen Schleier, daß ein richtiges Verständnis von Gott ihm Gesundheit bringen würde. Zu dieser Einsicht war er allerdings nicht durch solche Reden gekommen, wie sie ihm seine drei Freunde hielten. Sie war vielmehr das Ergebnis seines eigenen tiefen Nachdenkens, und er hielt mit lobenswerter Zähigkeit daran fest, obwohl seine Freunde ihm Vorwürfe darüber machten. Gerade diese vernunftgemäßen Schlußfolgerungen sind es, die dem Buch Hiob so große Bedeutung verleihen und es poetisch interessant machen. Sie erheben uns zu einer neuen und höheren Auffassung von Gott und vernichten die falschen Annahmen der körperlichen Sinne.
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