Bibelerzählungen sind stets lebendig und anregend. Sie sind klare Veranschaulichungen menschlicher Charaktere verschiedener Art, die zu unserer Unterweisung dienen sollen. Die Christliche Wissenschaft wirft ein helles Licht auf diese kurz gefaßten, aber scharf gezeichneten Skizzen menschlicher Eigenschaften und enthüllt den tieferen Sinn, der ihnen zugrunde liegt. Keine dieser Erzählungen enthält eine bessere Lehre für uns als diejenige von Naeman, dem Syrer.
Von diesem „Feldhauptmann des Königs von Syrien“ wird uns erzählt, daß er „ein trefflicher Mann“ war „vor seinem Herrn und hoch gehalten,“ aber daß er aussätzig war. Ein aus dem Lande Israel weggeführtes kleines Mägdlein erwähnte im Gespräch mit ihrer Herrin die heilende Macht Gottes. In liebevollem Mitgefühl und kindlichem Vertrauen erklärte es, daß, wenn Elisa, der Prophet Gottes, zugegen wäre, er sicherlich den unglücklichen Mann heilen würde. Die Folge war, daß Naeman, mit einem Brief seines Königs an den König Israels ausgerüstet, sich voll Hoffnung und Zuversicht auf den Weg machte, um Heilung zu suchen. Mit einem großen Gefolge und mit reichen königlichen Geschenken beladen, die er für das Gute, das er erwartete, anbieten wollte, zog er aus. Der König Israels sah in der ihm überbrachten Botschaft nichts als Unheil; der Prophet Elisa jedoch, als er von dem Mann hörte, der so weit hergekommen war, um geheilt zu werden, befahl, daß er zu ihm gebracht werde. Und Naeman kam mit all seinem Pomp und seiner Pracht und stand vor dem Hause Elisas. Das Unerwartete geschah. Elisa ließ dem berühmten Kriegsmann durch seinen Diener sagen, er solle sich siebenmal im Jordan waschen; alsdann würde er rein werden. Der weitere Verlauf der Geschichte zeigt, daß der Prophet durch geistige Einsicht den Stolz und die Anmaßung des Syrers durchschaute und daher wußte, daß dessen Denken vor allem einer völligen Reinigung von diesen Eigenschaften bedurfte, ehe die Heilung stattfinden konnte.
Naeman hatte einen bitteren Kampf mit sich selbst auszufechten; aber liebevoller Rat stand ihm zur Seite, und schließlich trug das Gute den Sieg über das Böse davon. Er wusch sich,— oder mit anderen Worten, er erniedrigte sich,— nicht nur einmal, sondern siebenmal, in gehorsamer Befolgung des Befehls, sich zu waschen und rein zu werden, wie Gott es ihm durch Seinen Propheten befohlen hatte. Alsdann ging seine Umwandlung vor sich. Zu seiner edelmütigen und natürlichen Hochherzigkeit und seiner Willigkeit, an das Gute zu glauben,— was auch der Grund war, weshalb er sich aufgemacht hatte, um die Segnungen der Wahrheit zu suchen,— gesellte sich eine tiefe Demut, die sich in dankbarer Anerkennung vor der göttlichen Macht, die ihn geheilt hatte, beugte. Er gelobte völlige Hingabe an den einen Gott, dem er stets dienen werde. Der Mann, der seinem König treu gedient hatte, wußte wohl, was Treue gegen diesen neugefundenen Gott bedeutete. Nachdem der einst so stolze Befehlshaber über Menschen einsehen gelernt hatte, daß es in der ganzen Welt nur einen wahren Gott gibt, flehte er in rührender Weise um Vergebung, im Fall er sich durch seine menschliche Auffassung der Pflicht gegen seinen Gebieter dazu verleiten lassen sollte, einem falschen Gott zu dienen. Im Licht der Christlichen Wissenschaft sehen wir, wie notwendig es für uns alle ist, die Erfahrung Naemans, des Syrers, verstehen zu lernen und seine Selbstaufopferung nachzuahmen, ehe wir Gott in wiedergespiegelter Reinheit und Liebe richtig erkennen können.
Unsere Führerin sagt über Demut in „Miscellaneous Writings“ (S. 356): „Diese Tugend triumphiert über das Fleisch; sie ist der Geist der Christlichen Wissenschaft.“ In ihrem Forschen und Streben nach göttlicher Führung haben ernste Schüler der Lehren Mrs. Eddys die Notwendigkeit der wahren Demut des Gemüts erkennen gelernt, die nicht nur gelegentlich, sondern in ständiger Selbstverleugnung zum Ausdruck gebracht werden muß. Wohl denjenigen, die treu darnach streben, dieses wesentliche Merkmal des Christus-Gemüts zu erlangen. Durch diese Arbeiter auf dem weiten Feld der Christlichen Wissenschaft, die in einem Leben ständiger, gehorsamer Liebe und freudiger Selbstlosigkeit ihr Licht zur Ehre Gottes leuchten lassen, wird die wachsende Erkenntnis der großen geistigen Wahrheit über den zu Gottes Ebenbild geschaffenen Menschen mehr und mehr in die Erscheinung treten. Und es ist die Macht dieser Erkenntnis, die die Welt umgestalten wird.
Zwei hervorragende Diener Gottes, Moses, der hebräische Gesetzgeber, und Daniel, der hebräische Gefangene und spätere Herrscher von Babylon, demonstrierten die höchste und reinste Form der Demut,— ein rückhaltloses Aufgeben ihres Selbst vor Gott. Sie vollbrachten beide große Taten und waren leuchtende Vorbilder für die Welt. Beide erschauten das Kommen des Messias. Von Daniel heißt es, daß er inmitten der aggressiven Suggestionen des heidnischen Götzendienstes lange Jahre hindurch unentwegt im Dienste des einen Gottes stand, sich dem täglichen Gebet hingab und die falschen Annahmen der materiellen Sinne zurückwies, bis er schließlich jene Botschaft der Liebe empfing, die für uns alle ein beständiger Antrieb zum Guten ist: „Denn von dem ersten Tage an, da du von Herzen begehrtest zu verstehen und dich kasteitest vor deinem Gott, sind deine Worte erhört.“
Vor vielen Jahren, als sie noch Anfängerin war, fragte die Verfasserin eine Schülerin Mrs. Eddys, die unsere Führerin gut gekannt hatte, welche Charaktereigenschaft sie an der Entdeckerin und Begründerin der Christlichen Wissenschaft als die hervorragendste betrachtete. Sie erwiderte ohne Zögern: Die Demut. Die Nachfolger Mrs. Eddys haben diese Antwort oft wiederholt und werden sie auch fernerhin wiederholen; denn ein so großes Lebenswerk wie das ihrige es war, konnte nur jemand vollbringen, der Gott sehr nahe war, und der demutsvoll ein höheres Verständnis Seiner Gebote suchte. Die Heilige Schrift berichtet über die Beziehungen des hebräischen Gesetzgebers zu dem Volk, das er so sehr liebte und wohlbehalten aus Ägypten an die Schwelle des gelobten Landes führte, daß jeder diesem Volk gegebene Befehl erfolgte „wie der Herr Mose geboten hatte.“
In dem Bestreben, wahre Demut zu demonstrieren, müssen wir eingedenk bleiben, daß demütig und frei von Stolz und Anmaßung sein, nicht etwa zu bedeuten hat, daß wir Selbstunterschätzung, Schüchternheit oder gar Mangel an Selbstvertrauen bekunden sollen. In einem Wörterbuch lesen wir folgende Erklärung: „Die Demut unseres Erlösers war vollkommen, und doch hatte er eine richtige Auffassung von seiner eigenen Größe.“ Als Jesus seinen Jüngern die Füße wusch, sagte er schlicht: „Ihr heißet mich Meister und Herr und saget recht daran, denn ich bin es auch,“ und als er sie ermahnte, seinem Beispiel zu folgen, wies er darauf hin, daß die wahre Grundlage der Demut die Erkenntnis der Allheit Gottes, des göttlichen Prinzips, ist, und daß Ihm richtig dienen, den Weg zum Glück finden heißt. Wenn wir dieses Verständnis haben, sind wir willens, einen niedrigeren Platz einzunehmen als uns vielleicht in gebührender Weise zustehen dürfte.
In seinem zweiten Brief an die Korinther erhebt Paulus den Anspruch, er sei nicht weniger als die hohen Apostel, und in der Apostelgeschichte spricht er davon, daß er dem Herrn in Demut diene. Daß dies bei dem großen Organisator der ersten Kirche des Christentums unzweifelhaft der Fall war, ist aus den wertvollen Berichten seiner Lehren deutlich zu ersehen. Aber Paulus war unablässig bestrebt, die Kirche vor der Leerheit des Materialismus und dem eitlen Schachern des jüdischen Ritualismus zu schützen und sie von menschlichen Meinungen und abgöttischem Glauben rein und unverfälscht zu erhalten. Leider wurde die schlichte Frömmigkeit der Christen bald gewaltsam angegriffen, und die darauf folgenden Jahrhunderte brachten viele falsche Auslegungen über Glaubensbekenntnisse und Dogmen. In „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ (S. 142) schreibt Mrs. Eddy: „Wie zu Jesu Zeiten, müssen auch heute Tyrannei und Stolz aus dem Tempel hinausgepeitscht, und Demut und göttliche Wissenschaft darinnen willkommen geheißen werden.“ Mit der Erfahrung der Vergangenheit und einer klareren Einsicht in das geistige Gesetz umfriedigte unsere Führerin die Kirche Christi, der Scientisten, mit klugem Vorbedacht und liebevollen Schutzmaßregeln, aber „Demut und göttliche Wissenschaft“ können in dem Bau dieser Kirche nicht entbehrt werden. Möge eine jede reinigende Erfahrung uns einen höheren Grad der Demut und einen unbedingteren Gehorsam gegen die Satzungen des Handbuchs Der Mutter-Kirche bringen, was erwiesenermaßen für den Fortschritt der Christlichen Wissenschaft so notwendig ist.
Mit dem wachsenden Verständnis der wahren Bedeutung der Demut wird sich das Wesen des Christentums in stets neuen Formen und in unerwarteten Kreisen kundtun. Erziehungsinstitute, soziale und politische Bewegungen, religiöse Körperschaften aller Sekten und Glaubensrichtungen werden das Wirken des Sauerteigs der Wahrheit empfinden. Zarte Schößlinge verheißen ein kräftiges Wachstum. Je ungestümer der Irrtum sich auflehnt, je mehr er sich in den Vordergrund drängt, desto stärker wird das stille Vertrauen in das Gute derjenigen sein, die mit wachsender Demut des Gemüts bestrebt sind, das Einssein mit dem göttlichen Prinzip zu demonstrieren und auf diese Weise die Allheit Gottes zu beweisen.
Wo sich aber der Gottlose bekehrt von allen seinen Sünden, die er getan hat, und hält alle meine Rechte und tut recht und wohl, so soll er leben und nicht sterben. Es soll aller seiner Übertretung, so er begangen hat, nicht gedacht werden; sondern er soll leben um der Gerechtigkeit willen, die er tut. Meinest du, daß ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht der Herr, Herr, und nicht vielmehr, daß er sich bekehre von seinem Wesen und lebe?— Hes. 18:21–23.
