Die an Daniel gerichteten Worte des Königs: „Dein Gott, dem du ohne Unterlaß dienst, der helfe dir!” sind der Schlüssel zu der wunderbaren Befreiung des Propheten von den Löwen. Was uns schützt und befreit, muß uns natürlich nahe sein, muß eine Macht sein, die bei uns ist. Ein entferntes Licht kann uns nicht aus der Dunkelheit heraushelfen, noch kann eine uns nicht gegenwärtige Wahrheit uns bei der Anwendung der Zahlen vor Irrtümern bewahren. So muß auch die Befreiung von Leiden, Unglück oder Gefahr aller Art von einer lebendigen, erlösenden, gegenwärtigen Macht vollbracht werden,— einem Gott, der nahe ist und nicht ferne. Hier entsteht nun die Frage: Wie können wir Gott in Zeiten der Not bewußt nahe haben? Können wir es nicht durch das Bestreben, in unserm Wandel stets mit dem göttlichen Prinzip, Liebe, übereinzustimmen? Und umfaßt das nicht ein unausgesetztes Bemühen, die Eigenschaften zum Ausdruck zu bringen, die in diesem Prinzip oder Gemüt bestehen? Gütig und liebevoll sein beweist notwendigerweise die Gegenwart der Liebe, denn Liebe — mit andern Worten das göttliche Prinzip — umfaßt alles, was es an Güte und Freundlichkeit geben kann. Ist jemand wahrhaftig, so beweist er damit die tatsächliche Gegenwart der Wahrheit; Wahrhaftigkeit und Wahrheit können nicht getrennt werden. Ebenso demonstriert oder beweist die Anwendung von Intelligenz und die Betätigung des Guten die tatsächliche Gegenwart von Gemüt, dem unendlichen Guten.
Um Gott so wie Daniel ohne Unterlaß zu dienen, müssen wir unser Selbst aufgeben, müssen den falschen Sinn überwinden, der seine eignen Neigungen und Wünsche befriedigen möchte, damit der wahre Mensch in die Erscheinung treten kann. Geben ist Gottes ureigenstes Wesen, weshalb der Ausdruck „unendlich gut” so oft gebraucht wird, um das Wesen der Gottheit zu kennzeichnen. Somit stellt der Mensch, der ununterbrochen gibt oder dem Guten dient, seine Einheit mit der unendlichen Quelle alles Guten her, während derjenige sich von Gott, der einzig beschützenden und erhaltenden Macht, trennt, der in selbstsüchtiger Weise Gewinn sucht. Ohne Unterlaß dienen bedeutet somit, sich beständig der Tatsache bewußt sein, daß alle Tätigkeit, Gnade und Güte von Gott ausgeht, und daß es, getrennt von dem einen Gemüt, weder wahren Dienst, richtige Tätigkeit noch reines Denken geben kann. Jesus drückte dies mit folgenden Worten aus: „Der Sohn kann nichts von sich selber tun, sondern was er siehet den Vater tun; denn was dieser tut, das tut gleicherweise auch der Sohn.” Wir müssen wissen, daß selbst das Verlangen nach dem Guten weder ein Bestandteil noch ein Vermögen des sogenannten menschlichen Gemüts ist, sondern daß es untrennbar eins ist mit dem göttlichen Gemüt; daß jeder Gedanke, der in gütigem Wort, in liebreicher Tat, in hochherzigen Werken zum Ausdruck kommt, eine Kundwerdung eben dieses Gemüts ist, und daß Harmonie oder Güte in jeder Form der unmittelbare Ausfluß der göttlichen Intelligenz ist. Diese Erkenntnis verleiht sowohl Macht wie Schutz. Mrs. Eddy schreibt (Miscellaneous Writings, S. 37): „Unsterbliches Gemüt ist Gott, und dieses Gemüt tut sich kund durch alle Gedanken und Wünsche, die die Menschen zur Reinheit, Gesundheit und Heiligkeit und zu den geistigen Tatsachen des Seins führen.”
Unsre Erlösung vom Übel wird ganz natürlich und notwendig dadurch bewirkt, daß wir bewußt in der Gegenwart Gottes weilen, indem wir die Eigenschaften des göttlichen Wesens im täglichen Leben über. Wo Gott ist, herrscht das Gute, und darin ist des Menschen Frieden geborgen. Wenn wir die Annahme einer Selbstheit in der Materie als unwirklichen sterblichen Begriff betrachten, uns davon abwenden und unsre Wesenseinheit mit Geist darin sehen, daß wir uns als demütige Diener des lebendigen Gottes fühlen, werden wir sicherlich Befreiung vom Übel erfahren. Dies geht ganz unabwendbar aus der ganzen Art der dadurch verwirklichten Beziehung hervor. In diesem selbstlosen Dienst geht des Menschen materieller Begriff von sich selbst in dem göttlichen auf, worin er sich als Gottes Idee findet, sein Sein „verborgen mit Christo in Gott,” und darum geborgen vor dem Übel, unter welcher Maske oder in welcher Form es auch auftreten mag.
Der denkbar vollkommenste Spiegel kann kein Spiegelbild zurückwerfen, wenn nicht etwas davor gestellt wird, das diese Wiederspiegelung hervorruft. Wenn sich jemand mit einem Armvoll Dorngestrüpp vor einen Spiegel stellen würde, so käme ihm die Wiederspiegelung von Dornen zurück. Er braucht sich nur mit Rosen zu umgeben, und auch das Spiegelbild wird die Schönheit dieser herrlichen Blumen enthalten. Genau so wird jemand, der vor den Spiegel des Lebens tritt mit dem Dorngestrüpp des Eigennutzes, der Eigenliebe, der Kälte, der Grausamkeit und der Furcht, ein Spiegelbild von diesem Ich zurückbekommen, das ihm in Zeiten der Not nicht zu helfen vermag. Andrerseits braucht er sich nur der herrlichen Arbeit hinzugeben, die Eigenschaften der Liebe, der Wahrheit und des Guten zu pflegen, und er würde dadurch so in Gott aufgehen, daß er nur die Wiederspiegelung dieses schöpferischen Gemüts erleben könnte; und in dessen Gegenwart können Haß, tierische Grausamkeit und Mißklang unmöglich verweilen.
Wie Daniel befreit wurde durch Gott, dem er ohne Unterlaß diente, so werden alle, die seinem Beispiel folgen, auch Befreiung finden. Die Einheit mit der göttlichen Macht kommt dadurch zustande, daß wir die Eigenschaften des Guten durch unser Leben zum Ausdruck bringen — Eigenschaften wie Freundlichkeit, Güte, Wohlwollen, Liebe, Weisheit, Barmherzigkeit, Versöhnlichkeit — und nichts Böses denken. Unendliche Liebe ist das ureigenste Wesen dieser Eigenschaften, ist ihre Ursache und ihr Ursprung und muß dem, der solche Eigenschaften zum Ausdruck bringt, lebendige Gegenwart werden. Im Jeremia lesen wir: „Wer sich rühmen will, der rühme sich des, daß er mich wisse und kenne, daß ich der Herr bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht der Herr.” Es ist somit offenbar die Wiederspiegelung des göttlichen Wesens, woran Gott Wohlgefallen hat, denn Er hat gesagt: „Ich bin Gott, und keiner mehr.”
Gott dienen, indem wir im Umgang mit unsern Nebenmenschen die göttliche Natur zum Ausdruck bringen; ein edles Leben führen, stets auf die Verbreitung des Guten bedacht sein und auf diese Weise eine beständige Einheit mit dem Vater unterhalten, das befähigt uns, die göttliche Kraft zu der Zerstörung des Bösen anzuwenden und das Gute zu entfalten,— eine Fähigkeit, die Gott denjenigen verleiht, die sich in Demut von einem falschen Selbst abwenden und sich ernstlich und aufrichtig bemühen, Seinen Willen zu tun. Unsre Führerin schreibt in Miscellany (S. 160): „So leben, daß das menschliche Bewußtsein in beständiger Beziehung mit dem Göttlichen, Geistigen und Ewigen bleibt, heißt die unendliche Macht individualisieren; und das ist Christliche Wissenschaft.”
So können auch wir, obwohl uns anscheinend die Täuschungen der materiellen Sinne umgeben, durch das Verständnis der Christlichen Wissenschaft die Stimme des Königs hören: „Dein Gott, dem du ohne Unterlaß dienst, der helfe dir!” Und wenn wir sie hören, dann werden wir Mut fassen, nach oben blicken und eingedenk unsres Bemühens, unser Ich aus dem Wege zu räumen und stets nur die göttlichen Eigenschaften wiederzuspiegeln, in festem Vertrauen die Gegenwart der wunderbaren Liebe beweisen, die stets beschirmt und beschützt.
