Es gibt nichts, woran die Menschheit ernstlicher beteiligt ist, als die Frage wahrer Verwandtschaft. Ihre Bedeutung zu verstehen und dadurch imstande zu sein, im täglichen Leben ein harmonisches Zusammenleben mit anderen auszuarbeiten ist das, was die meisten Menschen als eine ihrer größten Schwierigkeiten ansehen. Diese Frage immer richtig zu lösen, ist in der Tat von größter Wichtigkeit. Das Unvermögen, zwischen den Menschen richtige Beziehungen zustande zu bringen, hat das meiste, was in den heutigen Zuständen der Welt bedauernswert ist, zur Folge gehabt.
Fast jedermann wird zugeben, daß das größte Hindernis der Verwirklichung einer wahren Verwandtschaft die Selbstsucht ist. Die Menschen haben in so großem Maße das eigene Gute gesucht, den eigenen Vorteil erstrebt,—die Bedürfnisse und Wünsche anderer verhältnismäßig so wenig beachtet—, daß eine wahre Auffassung von Verwandtschaft in menschlichen Angelegenheiten sehr gefehlt hat. Daß die Selbstsucht das größte Hindernis harmonischer Vereinigungen ist, ist leicht erkennbar; jeder Christ wird zugeben, daß diese Schwierigkeit durch die Betätigung der Goldenen Regel überwunden wird. Seit mehr als neunzehnhundert Jahren haben die Menschen versucht, ein Verständnis zu erlangen, um gerade dies zu tun,—um gerade so zu handeln, wie sie möchten, daß gegen sie gehandelt wird; und ihre Gebete sind durch die Offenbarung der Christlichen Wissenschaft erhört worden.
Diese vollkommene, von Gott gegebene Wissenschaft, lehrt klar, was alles wahre Verwandtschaft ist. Ja, von einem gewissen Standpunkt aus ist ihre ganze Lehre die Erklärung dieser Frage, und sie legt sie auf unendlich viele Arten aus. In Miscellaneous Writings (S. 151) schreibt Mrs. Eddy, die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, klar: „Gott ist unser Vater und unsere Mutter, unser Seelsorger und der große Arzt: Er ist des Menschen einzig wirklicher Verwandter auf Erden und im Himmel. David sang:, Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde‘". Das Verständnis von Gott als „des Menschen einzig wirklichem Verwandten” Muß also das Verständnis aller wahren Verwandtschaft in sich schließen. Keine Vereinigung unter den Menschen kann daher vollkommene Harmonie hervorbringen, wenn sie diese große Wahrheit nicht in Betracht zieht, wenn sie ihr Verständnis von Verwandtschaft nicht auf das gründet, was auf diese Weise geoffenbart wird.
Es sollte allerdings scheinen, daß alle Menschen sich beeilen würden, diese herrliche Tatsache, daß Gott, das unendliche Gute, für den Menschen Alles-inallem ist, anzunehmen, da doch die volle Verwirklichung dieser Tatsache unverzüglich allen Segen in die Erscheinung treten lassen würde. Und doch sehen sogar die Christlichen Wissenschafter nicht immer sofort ein, daß diese Verwandtschaft mit Gott notwendigerweise jede rechte Verwandtschaft in sich schließt. Statt dessen sind sie bei ihrem ersten Bekanntwerden mit dem Auspruch der Mrs. Eddy, daß Gott des Menschen „einzig wirklicher Verwandter auf Erden wie im Himmel” ist, geneigt zu glauben, daß sie das Zugeben dieser Wahrheit von denen, die sie schon kennen und lieben, trennen würde. Im Gegenteil, es bereitet den Weg zu der Erkenntnis, daß die vollkommene Verwandtschaft alles in sich schließt. Zugleich lehrt es das gesegnete Verfahren, sowohl diese Verwandtschaft verstehen zu lernen und zu demonstrieren als es auch abzulehnen, für sich oder den Nächsten einen Begriff des Einsseins anzunehmen, der nicht an die wahre Verwandtschaft heranreicht, wie sie in Gott, dem unendlichen Guten, gefunden wird.
Die Christliche Wissenschaft zeigt, wie diese Wahrheit über Verwandtschaft zu betrachten ist. Sie lehrt, wie man den Gedanken zu dem erweiterten Verständnis von dem, was dieses göttliche Einssein mit Gott bedeutet, sich entfalten läßt. Sie weist uns an, über Gottes herrliche Eigenschaften, über Seine Intelligenz, Seine Weisheit, Seine Güte, Seine Gnade, Seine Lieblichkeit mit allen ihren Wundern nachzudenken, und dann in der all-genugsamen Wahrheit zu verweilen, daß der Mensch, da er mit Gott verwandt ist, auch mit all diesen Vollkommenheiten verwandt ist und mit nichts anderem.
Wer möchte sich nicht freuen, verstehen zu lernen, daß er in Wirklichkeit nur Gott angehört; daß er in Wirklichkeit keine Verwandtschaft mit etwas hat, das nicht wahr und gut, groß und edel, intelligent und weise ist? Wer würde sich nicht fest an dieses Verfahren halten, das ihn in das Bewußtsein bringen wird, in dem er sich und seine Brüder als das vollkommene Bild und Gleichnis alles Guten sieht? Beständig beweisen, daß jede wahre Verwandtschaft nur das in sich schließt, was Gott-ähnlich und rein, weise und heilig, liebevoll und wahr ist, heißt auch jene Selbstlosigkeit gewinnen, die stets das eigene Gute in dem des andern sucht.
Das klingt alles sehr einfach in der Theorie. Doch wenn sich der Christliche Wissenschafter bemüht, es zu betätigen, so erheben allerlei Schwierigkeiten den Anspruch, sich ihm entgegenzustellen. Wenn er vielleicht auch theoretisch glaubt, daß des Menschen Verwandtschaft mit Gott überall vollkommene Verwandtschaft in sich schließt, so scheint er doch noch sehr daran festzuhalten, sowohl sich selbst als auch seinen Bruder als materiell und sterblich, als krank und sündig, jeden als im Besitze eines eigenen Gemüts anzusehen. Es stellt sich ihm daher anscheinend ein ganzes Heer von menschlichen Meinungen und Wünschen, eine Kundwerdung des falschen materiellen Selbst nach der andern entgegen.
Anstatt sich standhaft an die Wahrheit von der wahren Verwandtschaft, wie sie in der Christlichen Wissenschaft geoffenbart ist, zu halten und sie alles, was im eigenen Denken und Handeln falsch ist, zurechtweisen und berichtigen zu lassen, ist man oft versucht, seinen Bruder für das eigene mentale Unbehagen verantwortlich zu machen. Man sehnt sich danach, selbstlos und liebevoll zu sein; weil man sich aber nicht entschlossen von dem Zeugnis des materiellen Sinnes abwendet und seine Schlußfolgerungen nicht auf die Wahrheit gründet, daß Gott „des Menschen einzig wirklicher Verwandter” ist, so wird man von der falschen Verantwortlichkeit bestürmt, daß man entweder seinen Bruder im Auge behalten muß, bis dieser Bruder unserem Rechtschaffenheitsbegriff entspricht, oder daß man ihm mit all seinen scheinbaren Fehlern ganz sich selbst überlassen, und also lieblos gegen ihn sein muß.
In „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 6) gibt uns Mrs. Eddy die folgende das Herz befriedigende Erklärung: „Die göttliche Liebe weist den Menschen zurecht und regiert ihn”. Wir brauchen uns daher wegen unseres Bruders nie zu beunruhigen. Wir können uns stets „unter dem Schirm des Höchsten” flüchten, wo wir und unser Bruder in dem Gesegnetsein einer vollkommenen Verwandtschaft mit Gott und miteinander geborgen sind! Unter Gottes Regierung werden wir also sprechen, wenn ein Wort unserem Bruder helfen wird, oder schweigen, wenn es weise ist, stille zu sein. Vor allem werden wir die eigene Auffassung von irgend einem offensichtlichen Irrtum, wo er sich auch immer kund zu tun scheint, zurechtweisen und mit erhabener Ruhe in der zuversichtlichen Gewißheit verharren, daß wahre Verwandtschaft hier und jetzt die Tatsache der Schöpfung Gottes ist, und daß alle Menschen schließlich dahin kommen müssen, die freudige Wahrheit zu kennen und zum Ausdruck zu bringen, daß Gott in der Tat „des Menschen einzig wirklicher Verwandter auf Erden und im Himmel ist”.
