Das sogenannte sterbliche Gemüt oder „fleischlich gesinnt sein”, wie Paulus dieses regellose Gemenge ungeistiger Gedanken oder Annahmen bezeichnet, ist nichts anderes als Heuchelei und ein Heuchler. Jeder Anspruch der fleischlichen Gesinnung ist eine Täuschung; jedes ihrer sogenannten Gesetze ist ein grundloser Betrug; ihr Regiment oder Reich ist ein Hohn; ihre angemaßte Gewalt und Anziehungskraft ist eine Verneinung; ihre scheinbaren Schöpfungen sind Nachahmungen. Christus Jesus faßte dies kurz und bündig in die Erklärung zusammen, daß der Teufel, das Böse, „ein Lügner und ein Vater derselben” sei.
Deshalb sieht der Arbeiter in der Christlichen Wissenschaft bald ein, daß er dem Irrtum keine anderen Bedingungen stellen darf, als daß er das unbedingte Aufgeben jedes materiellen Anspruchs verlangt. Kein Vergleich kann bei dem inneren Kampf mit dem eigenen falschen Begriff vom Selbst geduldet werden,—bei dem Kampf, der beginnt, sobald auch nur ein einziger Schimmer der geistigen Wahrheit in das menschliche Bewußtsein des einzelnen eindringt. Mrs. Eddy spricht sich hierüber in Miscellaneous Writings (S. 101) bestimmt aus mit den Worten: „Die Christliche Wissenschaft und die Sinne führen Krieg gegeneinander. Es ist ein umwälzendes Ringen”. Und auf Seite 118 sagt sie: „Unwissenheit über sich selbst, Selbstwille, Selbstgerechtigkeit, Wollust, Geiz, Neid, Rache sind Feinde der Gnade, des Friedens und des Fortschritts; sie müssen mannhaft bekämpft und überwunden werden, sonst werden sie alles Glück ausrotten. Seid getrost; der Kampf mit sich selbst ist erhaben; er bereitet einem sehr viel Arbeit, doch das göttliche Prinzip arbeitet mit euch,—und Gehorsam krönt das ausdauernde Bemühen mit ewigem Sieg”.
Wie es sich für einen wissenschaftlichen Schriftsteller geziemt, gebraucht Mrs. Eddy ihre Worte genau und zutreffend. Es ist daher besonders bemerkenswert, daß sie auf der Liste der Feinde, denen wir in unserem Kampfe entgegentreten und die wir meistern müssen, die Unwissenheit über sich selbst zuerst erwähnt. Es scheint, daß die Menschen häufiger sich selbst täuschen, als sie sich von anderen täuschen lassen; und sie sind über sich selbst mehr im unklaren, als sie andere irreführen. Gemäß der Lehre und dem Beispiel Christi Jesu ist eine der grundlegenden und wesentlichen christlichen Gedankeneigenschaften die Demut. Aber der wahre Sinn von Demut kann nicht gewonnen und ausgedrückt werden, solange sich die Menschen weiter als materielle Wesen mit einem eigenen, von Gott unabhängigen und von Ihm getrennten Gemüt ansehen. Wer von sich so denkt, ist unwissend über des Menschen wahre Selbstheit in und vom göttlichen Gemüt; und diese Unwissenheit über sich selbst bringt Eigenwillen, Selbstgerechtigkeit, Wollust und alle übrigen Dinge der fleischlichen Gesinnung hervor. Es ist deshalb von größter Wichtigkeit, daß Selbsterkenntnis die Unwissenheit über sich selbst verdrängt, und daß jeder einzelne mit der wahren Selbstheit bekannt wird, auf die sich Johannes bezog, als er schrieb: „Meine Lieben, wir sind nun Gottes Kinder”,—Kinder des Geistes. Wer nie etwas anderes als falsche Münzen gesehen hat, kann keine Kenntnis der Münzen haben; gleicherweise hat derjenige keine Selbsterkenntnis, der den Menschen nie als geistig erkannt sondern das materielle Sinnenzeugnis über ihn als ein materielles Wesen mit tierischen Trieben als wahr angenommen hat.
Viele Leute, die sich der Christlichen Wissenschaft zuwenden, tun es, um die Schmerzen der Sinne los zu werden, ein Vorgehen, das teilweise mit dem Vorbild und den Unterweisungen Christi Jesu übereinstimmt, der die Nichtsheit der Materie daran zeigte, daß er zuerst die Nichtsheit der scheinbar unharmonischen Zustände der Materie bewies. Wenn der Patient mit dem Erforschen der Christlichen Wissenschaft beginnt, entdeckt er, daß nicht nur die Schmerzen der Materie sondern auch die scheinbaren Freuden der Materie dem Untergang geweiht sind, was das Verdrängen des falschen Begriffs vom Selbst mit seinem ganzen Gefolge von üblen Eigenschaften—Rache, Wollust, Geiz, Furcht, Selbstbedauern und Eigenwille—bedeutet.
Bei der Arbeit des Verdrängens der Unwissenheit über sich selbst durch Selbsterkenntnis zeigt es sich, daß der Zwilling der Demut, die Ehrlichkeit, unentbehrlich ist. Durch Ehrlichkeit gestärkt und durch Demut geschützt erweist sich der Kampf mit uns selbst nicht nur als erhaben sondern auch als freudig. Ehrlichkeit befähigt einen, das eigene Denken gründlich zu sondieren und alles aufzudecken, was auch immer Gott ungleich ist; und wenn die Irrtümer des Begehrens, der Veranlagung oder der Gewohnheit aufgedeckt sind, befähigt uns die Ehrlichkeit, nicht nicht nur diese Irrtümer furchtlos an das Licht der Wahrheit zu bringen, sondern auch sich tatsächlich darüber zu freuen, daß man es tun kann, weil es für denjenigen, der verstehen gelernt hat, daß das Böse nicht eine Person, sondern einfach eine falsche Annahme ist, keine Selbstverdammung und keine Selbstunterschätzung geben kann. Der Wunsch und das Bestreben des Christlichen Wissenschafters, den Glauben an das Böse aufzudecken und zu zerstören, sind ebenso wahrhaftig zuversichtlich und vernünftig wie die Absicht und das Bestreben eines Studierenden der Mathematik, alle Irrtümer aufzudecken und sie aus seiner Arbeit auszuscheiden. Der Christliche Wissenschafter sieht, daß die Irrtümer, die er fälschlicherweise als wahr angenommen hat, ebenso wenig ein Teil einer Person sind, wie die Irrtümer, die vom Mathematiker aufgedeckt und als unwahr erkannt werden. Dieses Trennen des Irrtums von sich selbst hinterläßt im Denken nichts, das auf die listigen Einwände der Selbstrechtfertigung oder der Selbstverdammung, die beide nur durch einen falschen Begriff vom Selbst erzeugt werden, hören könnte.
Der ehrliche Erforscher der Christlichen Wissenschaft verkündigt nicht leichtfertig die Unpersönlichkeit und die Machtlosigkeit des Bösen und frönt dann dem Bösen, weil er weiß, daß eine solche Haltung unehrlich, unwissenschaftlich und unchristlich ist. Außerdem zeigt eine solche Stellungnahme nicht Selbsterkenntnis sondern Unwissenheit über sich selbst und auch Unwissenheit über das göttliche Prinzip an. Selbsterkenntnis befähigt einen, nicht nur wahrzunehmen und zu erklären, daß das Böse kein Teil des Menschen ist, sondern es auch dadurch zu beweisen, daß man das Böse aus dem Denken und aus dem Leben ausscheidet, indem man in scheinbar geringem Maße einen Anfang macht, doch selbst dann das Prinzip und die Anwendbarkeit seiner göttlichen Regeln beweist.
Mrs. Eddy macht es klar, daß das Erkennen des falschen Begriffs vom Selbst—das Erkennen der Einbildungen, Schwachheiten und Falschheiten des materiellen Sinnes—der Erkenntnis von des Menschen wahrem Selbst als Gottes geistiger Widerspiegelung vorangehen muß. Durch eine solch gediegene Selbsterkenntnis kann die Nichtsheit der Mißklänge des materiellen Sinnes nicht bloß als eine folgerichtige Lehre sondern auch als eine Tatsache verstanden werden, weil diese Mißklänge durch das Bewußtsein der Harmonie, des Friedens und der Freiheit ersetzt werden. Auf diese Weise werden die Worte der Mrs. Eddy in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 571) bestätigt: „Erkenne dich selbst, und Gott wird dir Weisheit und Gelegenheit zu einem Sieg über das Böse geben”.
