„Aus der Fülle seiner reinen Neigungen heraus definierte er Liebe”. So weist unsere Führerin auf Seite 54 von „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” auf einen der wichtigsten menschlichen Schritte in Jesu Demonstration von des Menschen Einheit mit Gott und mit Seiner göttlichen Natur hin. Sie bietet hier einen Wegweiser dar, den alle erkennen und befolgen müssen, wenn sie auf dem himmelwärts führenden Pfade sicher in den Fußtapfen des Meisters wandeln wollen.
Neigung oder Zuneigung und Liebe sind nun oft als mehr oder weniger sinnverwandte Ausdrücke angesehen worden. Zuneigung ist jedoch nicht immer so hoch geschätzt worden, wie es hätte geschehen sollen, da sie oft nur als ein beschränkter, unbefriedigender, schwacher Versuch angesehen wurde, Liebe selbst auszudrücken. Doch statt dessen ist Zuneigung das erste Entfalten des Göttlichen im menschlichen Bewußtsein. Wenn Jesus notwendigerweise durch „seine reinen Neigungen” Liebe dartun mußte, so kann sicherlich kein geringerer Jünger es unterlassen, denselben Weg zu gehen, wenn er dieselbe mächtige Kraft beweisen will.
Mrs. Eddy deutet klar das Wesen und den Platz der Zuneigung oder der Herzenswärme in der Demonstration des Christlichen Wissenschafters an, wenn sie sie zu den „Übergangseigenschaften” rechnet. Auf Seite 115 und 116 in Wissenschaft und Gesundheit legt sie dar, was sie die „wissenschaftliche Übertragung vom sterblichen Gemüt” nennt. Sie spricht dort von drei Graden. Der zweite Grad, den sie als „moralisch” bezeichnet, und der, wie sie sagt, „Menschlichkeit, Ehrlichkeit, Herzenswärme, Erbarmen, Hoffnung, Glaube, Sanftmut, Mäßigkeit” einschließt, ist einer, der sicherlich jeden von uns sehr tief berührt. Dies sind die Eigenschaften, die verstanden und demonstriert werden müssen, ehe wir die „Wirklichkeit”—den dritten Grad—ergreifen können; und zu diesen „Übergangseigenschaften” zählt sie die „Herzenswärme”.
Es ist daher wichtig, daß die Christlichen Wissenschafter sowohl verstehen lernen, was Herzenswärme oder Zuneigung wirklich ist, als auch die Notwendigkeit erkennen, sie selbst zum Ausdruck zu bringen. Der Versuch, vom ersten Grad, den unsere Führerin als „physisch” bezeichnet, und den sie auch „Unwirklichkeit” nennt, zum dritten Grad, der „geistig” und „Wirklichkeit” ist, überzuspringen, ohne die dazwischenliegenden, im zweiten Grade eingeschlossenen Schritte zu tun, ist ein Grund für manchen traurigen Fall bei Christlichen Wissenschaftern. Weil wir manchmal versuchen, uns—wie wir es gern nennen—zu metaphysischen Höhen zu erheben, die wir nicht geistig erklommen haben, finden wir uns an ganz unerwarteten Stellen mental vollständig zerschlagen und gedemütigt. Verfehlen, die Demut zu verstehen, die willig ist, in der eigenen Demonstration des Guten bescheiden vorwärts zu gehen, das erste Entfalten geistiger Eigenschaften gründlich zu begreifen und sie geduldig zu betätigen heißt sich der Gefahr und der Notwendigkeit aussetzen, in einer mehr bescheidenen, geordneten Weise von neuem anfangen zu müssen.
Die köstliche Eigenschaft der Herzenswärme ist nun eine Eigenschaft, für die wir Gott von ganzem Herzen danken dürfen. Reine Herzenswärme ist so sanft, so so ruhig, so demütig, daß sie denjenigen, der sie ausdrückt, in solch anmutiger Weise vorwärts bringt, daß manche Schwierigkeit fast unbewußt überwunden und manche Höhe scheinbar mühelos erklommen wird. Während reine Neigung das Verlangen nach hohen Zielen in sich schließt, hält sie sich doch zugleich so nahe an andere Bedürftige, daß die Bedrückten und die Müden ihre sanfte Gegenwart empfinden und durch ihr zärtliches Mitfühlen geheilt werden,—jenes Mitfühlen, das geboren wird, wenn man im eigenen Denken und in der eigenen Erfahrung Schwierigkeiten mit der der Herzenswärme eigenen Reinheit überwindet.
Es hat jemand darüber geschrieben: „Es gibt im Leben keinen Segen wie die Herzenswärme. Sie lindert, heiligt, erhebt, bezwingt und bringt ihren angeborenen Himmel zur Erde hernieder”. Herzenswärme unterläßt es nie, jedes kleinste Gute zu schätzen und zu hegen; sie bringt daher jene kostbare Ermutigung, die wir bei unseren Bestrebungen, die herrliche Wissenschaft des Lebens zu demonstrieren, nötig haben. Sie beschützt jede rechte Neigung, wo und wann sie sich auch zeigt. Gaben nicht Jesu „reine Neigungen”, die er durch seine eigenen geduldigen Bemühungen, Gott, dem Guten, stets treu zu sein, erlangte, ihm das Verständnis für die Bedürfnisse anderer? Sie erschlossen außerdem die Tür seines Verständnisses, damit er sie unfehlbar überwinden und befriedigen könne.
Zuneigung ist also nicht beschränkt, unbefriedigend und schwach; sie ist im Gegenteil wie das Aufgehen einer schönen Knospe, die so lieblich ist, daß wir ihr Aufgehen verzögern möchten, um ja ihre ganze Schönheit zu erfassen. In gleicher Weise verweilen wir gerne bei den lieblichen Beispielen der „reinen Neigungen” Jesu. Diese können wir anscheinend so leicht verstehen und schätzen,—sein standhaftes Emporblicken zum Vater, seine beständige Bereitwilligkeit zu dienen, sein weises Mitfühlen, sein geduldiges Warten, damit andere wachsen konnten, seine liebevolle Güte.
Als Paulus sagte: „Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor”, bot er uns da nicht den einfachen, heiligen Weg an, auf dem wir mit dem Meister an den stillen Orten der „Übergangseigenschaften” wandeln, wo die Stärke und Kraft der Geistigkeit Gelegenheit hat, sich in der geordneten Weise des Christus zu entfalten? Wir wollen daher Gott danken für den „zweiten Grad”,—das Bindeglied zwischen dem Physischen und dem Geistigen, zwischen dem Unwirklichen und dem Wirklichen, wo auch wir lernen können, durch „die Fülle [unserer] reinen Neigungen” Liebe zu definieren!
