Löset ihn auf und lasset ihn gehen!” waren die Worte, die Jesus zu den um ihn Versammelten sprach, als Lazarus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen aus dem Grabe hervorkam. Ob Jesus wohl nur von den materiellen Hüllen redete, die Lazarus behinderten? Liegt hier nicht der Schluß nahe, als habe er vielmehr die mentalen Fesseln gemeint, nämlich ihre Annahmen von Krankheit und Tod, mit denen das sterbliche Gemüt den Lazarus beschwerte? „Jesus rief Lazarus wieder ins Leben zurück durch das Verständnis, daß Lazarus niemals gestorben war, nicht durch das Zugeständnis, daß sein Körper gestorben und wieder lebendig geworden war”, schreibt Mrs. Eddy in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 75). Indem die Versammelten Lazarus nicht nur materiell, sondern auch mental lösten, erlebten alle, nicht nur Lazarus, bis zu einem gewissen Grade eine Auferstehung,—eine Auferweckung aus den alten Annahmen, daß Leben in der Materie sei, daß Krankheit und Tod wirklich und zu fürchten seien.
„Löset ihn auf und lasset ihn gehen!” Ruft uns nicht Christus, Wahrheit, diese Worte ständig zu? Wenn alle bereit wären, dieser Mahnung zu folgen, soweit sie es verstünden, wie würde dieses Licht der Wahrheit trösten, heilen und befreien! Aber wieviel eher lassen die Menschen sich von den sogenannten materiellen Sinnen täuschen! Und so kommt es, daß sie mit ihrem falschen Denken nicht lösen, sondern binden und beschweren, sei es ihre Nebenmenschen, sei es sich selbst bei ihren Erfahrungen und Problemen. Größtenteils geschieht es aus Unwissenheit oder aus Mangel an geistigem Verständnis; denn es muß für alle Menschen viel erhebender sein zu befreien als zu binden, und im Befreien sich selbst zu befreien.
Wie können wir aber der oben angeführten Forderung des Herrn gerecht werden? In keiner andern Weise als wie uns Christus Jesus selbst vorlebte. Sein ganzes Reden und Handeln gründete sich auf die Wahrheit des geistigen Seins und war von der göttlichen, helfenden Liebe durchdrungen. Um ihm nachzufolgen, müssen wir zunächst in das geistige Verständnis der Wirklichkeit hineinwachsen; und dies gelingt uns durch ernstliches Studium der Christlichen Wissenschaft und durch Anwendung des Gelernten im täglichen Leben. Dann werden wir verstehen, was unsere Pflichten gegen Gott und unsern Nächsten sind. Mrs. Eddy sagt in Wissenschaft und Gesundheit (S. 505): „Verständnis ist die Scheidelinie zwischen dem Wirklichen und Unwirklichen. Geistiges Verständnis entfaltet Gemüt—Leben, Wahrheit und Liebe—und demonstriert den göttlichen Sinn, indem es den geistigen Beweis des Universums in der Christlichen Wissenschaft liefert”. Wir müssen also recht denken, wenn wir frei werden wollen. Es gibt keine andere Lösung.
Die Schöpfung ist geistig, vollkommen und harmonisch. Unbeeinflußt und unberührt von der Welt der materiellen Sinne wird sie vom göttlichen Gemüt regiert; und nichts kann hier eingehen, „das da Greuel tut und Lüge”. Das vollkommene Bild Gottes sollte uns stets vorschweben; dann würden Gedanken, Worte und Taten Vollkommenheit widerspiegeln und die Menschen würden nicht mehr binden sondern lösen, nicht lieblose Kritik üben sondern sich bemühen, ein rechtes Gericht zu richten wie Jesus, der „in der Wissenschaft den vollkommenen Menschen sah, der ihm da erschien, wo den Sterblichen der sündige, sterbliche Mensch erscheint”, wie wir in Wissenschaft und Gesundheit (S. 476 und 477) lesen. Nur diese Erkenntnis, die wir durch die Christliche Wissenschaft gewinnen, befähigt uns, der Mahnung unseres Erlösers zu folgen.
In dem Verhältnis, wie sich das geistige Verständnis erweitert, wird der alte Mensch mit seinen Gedanken und Taten abgelegt. Durch diese Umwandlung werden auch die Eigenschaften, die die Triebkräfte des menschlichen Handelns sind, geläutert und vergeistigt. Bindet nicht der menschliche Sinn von Liebe öfter, als er löst? Wie könnte er auch anders? Wird er doch vom sterblichen Gemüt mit seinem Selbstwillen geführt und regiert. Wie oft wird nicht ein solcher Sinn von Liebe eine Quelle des Kummers? Nur was frei ist, kann befreien; daher ist die Liebe, die befreien kann, eine Eigenschaft des göttlichen Gemüts.
Geistige Liebe ist aus Gott, dem göttlichen Gemüt, geboren und spiegelt Gottes Wesen wider. Sie kennt nur die Harmonie und Vollkommenheit des vollkommenen Menschen. Sie versucht nie, irrig zu herrschen oder zu beeinflussen. Aber der menschliche Sinn von Liebe weiß nicht, daß alle Ideen ihre eigene Individualität besitzen, und daß durch diese Individualität ihrem Denken und Handeln die Eigenart gegeben wird. Der geistigen Liebe ist die Individualität der Ideen heilig, weil durch diese Liebe die Unendlichkeit Gottes, des Schöpfers, erkannt wird, und weil sie weiß, daß alle Ideen in ihrer Tätigkeit das unendliche Gemüt widerspiegeln. Durch diese Erkenntnis ist den falschen Bildern des sterblichen Gemüts jede Daseinsmöglichkeit genommen. Wahre Liebe kann daher gar nicht binden; sie löst und befreit.
Und wann sind wir in der Tat und in der Wahrheit barmherzig? Wenn wir uns unseres hilfebedürftigen Nächsten erbarmen, wie Jesus, der uns ein so edles Beispiel gab, es tat. Er sagte zu den Anklägern des Weibes, das man zu ihm brachte: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie”. Und die biblische Erzählung fährt fort: „Da sie aber das hörten, gingen sie hinaus (von ihrem Gewissen überführt), einer nach dem andern, von den Ältesten an bis zu den Geringsten; und Jesus ward gelassen allein und das Weib in der Mitte stehend”. Dann fragte er das Weib: „Hat dich niemand verdammt?” Und als sie antwortete: „Herr, niemand”, da sprach er die bedeutsamen Worte: „So verdamme ich dich auch nicht”. Aber er fügte hinzu: „Sündige hinfort nicht mehr!”
Christus Jesus gehorchte nur dem göttlichen Gesetz, das keine Unvollkommenheit kennt; nichts, das sich auf das Zeugnis der Sinne gründete, wurde von ihm als wirklich anerkannt. In dem Maße wie unser Verständnis von der Wahrheit des Seins zunimmt, werden wir klarer die Unwirklichkeit allen Irrtums erkennen. Wir können helfen, wenn wir uns bewußt sind. daß das wirkliche Selbst unseres Nächsten Gottes Kind ist, ungeachtet dessen, was die sterblichen Sinne sagen mögen, und daß er als Gottes Kind Erbe der Vollkommenheit ist. In dieser Weise helfen wir ihm mit sanftmütigem Geist zurecht. „Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen”.
Laßt uns also treu weiter arbeiten! Jeder muß seine individuelle Arbeit ausführen, doch das Arbeitsfeld ist für alle das gleiche. Die Arbeit liegt im eigenen Bewußtsein. Mit der Zerstörung der Materialität werden alle Fesseln in dem Maße von uns fallen, wie wir die dem Menschen von Gott verliehen Herrschaft und seine von Gott verliehenen Rechte erkennen. In solcher Erkenntnis können wir nur ein rechtes Gericht richten und den Worten des Meisters folgen: „Löset ihn auf und lasset ihn gehen!”
