Der Christliche Wissenschafter verlangt nach nichts sehnlicher als nach wahrer Selbstverleugnung. Er weiß, daß zwischen ihn und die Verwirklichung alles geistig Guten die Annahmen der Selbstsucht zu treten trachten, die von seinem gegenwärtigen Bewußtsein jenen himmlischen Sinn fernhalten, der ihm als dem Kind Gottes eigen ist. Wenn das Licht der Christlichen Wissenschaft zuerst über ihm aufdämmert, kann er sich für sehr selbstlos halten. Vielleicht glaubt er gar, er habe ausschließlich dafür gelebt, andere zufrieden und glücklich zu machen. Wenngleich er sich vom menschlichen Standpunkt aus dem Dienst für andere geopfert haben kann, so ist dieser Dienst doch keine Selbstverleugnung im wahrsten Sinne, wenn er nicht auf die Wahrheit des geistigen Seins gegründet ist.
Mrs. Eddy sagt in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 231): „Ehe man einem Übel in der richtigen Weise mit der Wahrheit entgegentritt und es durch sie gänzlich überwindet, ist das Übel niemals besiegt”. Wenn daher die Selbstverleugnung nicht die Wahrheit in sich schließt, daß der Mensch notwendigerweise nur das zum Ausdruck bringt, was von Gott, dem Guten, ist, wenn man die Wahrheit, daß man getrennt von Gott nichts tun kann, nicht erkennt und dartut, so hat man den Saum des Gewandes der Selbstverleugnung nicht berührt, auch kann man nicht die Unwirklichkeit der Ansprüche des Übels wissenschaftlich beweisen. Wenn man den falschen Sinn vom Selbst nicht in genügendem Maße aufgibt, kann man keinem Übel wirklich entgegentreten und es meistern, um befähigt zu werden, mit dem Erkennen der wahren Selbstheit als im göttlichen Gemüt bestehend anzufangen.
Jene Selbstaufopferung, die glaubt, sie gebe etwas Wirkliches auf, wenn sie andere zu segnen versucht; die das, was sie als ihr würdiges Handeln betrachtet, von anderen anerkannt haben will,—eine solche Selbstaufopferung ist nicht die selbstlose Liebe, die ihr eigenes Gesegnetsein im Widerspiegeln der Liebe zu anderen sucht.
Jesu Ermahnung: „Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir”, hat fast zwanzig Jahrhunderte lang als Licht geleuchtet, und Tausende von christlichen Männern und Frauen haben danach getrachtet, sie zu befolgen. Soweit ihr Streben ehrlich und aufrichtig war, haben sie einen gewissen Grad von Gehorsam erreicht, und die Welt ist dementsprechend gesegnet worden. Doch wie in allen anderen Dingen, so muß auch hier der Tröster in der Christlichen Wissenschaft erscheinen, ehe Jesu Worte ganz verstanden werden können; denn erklärte nicht Jesus selbst: „Der Tröster, der heilige Geist, welchen mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch erinnern alles des, das ich euch gesagt habe”?
Im Lichte der Offenbarung der Christlichen Wissenschaft wird das Gebot der Selbstverleugnung göttlich einfach. Anstatt die Selbstverleugnung auf den Glauben an eine materielle Selbstheit—die eigene Selbstheit und die der anderen—zu gründen, beginnt sie mit der Wahrheit, daß der Mensch das vollkommene Bild des vollkommenen Gottes ist. In dem Maße wie sich dies entfaltet, befähigt es jeden, die Annahmen von einer von Gott und Seinen Vollkommenheiten getrennten Selbstheit zu verneinen und richtig zurückzuweisen, und zeigt den wahren Weg der Selbstverleugnung, nämlich das Verlassen jeder möglichen Annahme von einem vom Geist, vom göttlichen Leben, von der göttlichen Wahrheit, von der göttlichen Liebe, getrennten Dasein.
Die Christliche Wissenschaft nimmt also von der allgemein angenommenen Auffassung von Selbstverleugnung durchaus nichts weg. Sie erlaubt es den Menschen nicht, sich selbst als gute oder schlechte Sterbliche zu betrachten; auch erlaubt sie einem nicht, seines Nächsten Not zu vergessen. Nichtsdestoweniger macht sie einen bestimmten Unterschied zwischen der Selbstaufopferung, die die wesentlichen Bestandteile der Selbstsucht oder des Selbstbewußtseins in sich schließt, und der Selbstverleugnung, die sich von den Gedanken des Eigennutzes in jeder Form abwendet.
Wahre Selbstverleugnung bringt ihre Zeit nicht damit zu, daß sie den Nächsten richtet und versucht, des Nächsten vermeintliche Fehler durch Beurteilen und Verurteilen zu berichtigen. Die Selbstverleugnung weist vielmehr nur die eigenen Annahmen vom Übel zurecht und gibt den eigenen Sinn von einem vom göttlichen Gemüt getrennten Selbst auf. Sie lernt beständig mehr über den Menschen als dem Gleichnis dieses Gemüts,—als dem Ausdruck der geistigen Güte, der göttlichen Vollkommenheit, alles Wahren und Reinen; sie lernt von jenem Selbst, das nichts zu verneinen, nichts aufzugeben braucht, da es durch keinerlei eigene Macht sondern einzig und allein als die Widerspiegelung der Gottheit besteht.
Vollständige Selbstverleugnung wird daher in dem Maße erworben, wie der Christliche Wissenschafter sein ganze geistige Arbeit vom Standpunkt der Wahrheit des Seins aus verrichtet und dabei die Annahmen eines falschen Selbst ablegt, sobald sie aufgedeckt sind. Dies heißt der Ermahnung unserer Führerin gehorchen und die Verheißung erlangen, die sie in Miscellaneous Writings (S. 298) verspricht, wenn sie sagt: „Verharre in der Moral der absoluten Christlichen Wissenschaft—Selbstverleugnung und Reinheit; dann erlöst dich die Wahrheit von der scheinbaren Macht des Irrtums, und der Glaube, der in Gerechtigkeit gekleidet ist, trägt den Sieg davon”.
