An einem schönen Sommertage stellten einige kleine Kinder einen Versuch an, der uns zur Lehre dient. Sie zogen um ein Käferchen, das vom Rasen auf den Tisch gekrochen war, eine Bleistiftlinie. Dem winzigen Geschöpf erschien diese Linie als unüberschreitbares Hindernis, und es bewegte sich innerhalb der Linie beständig im Kreise herum, vergeblich eine Öffnung suchend, da es nicht gewahr wurde, daß das, was ihm als Hindernis erschien, nur ein Zeichen war, worüber es hätte leicht hinweggehen können.
Wie oft erfüllt uns im Leben ein Gefühl der Knechtschaft und der Begrenzung, nur weil wir glauben, wir sehen ein Hindernis des Fortschritts dort, wo in Wirklichkeit kein Hindernis ist!. Die Verfasserin dieser Betrachtung beobachtete einst ein Beispiel gerade einer solch scheinbaren Knechtschaft. Ein junger Mann, der seine Heimat verlassen hatte, um in einer andern Stadt eine Stellung anzunehmen, bedauerte, daß seine Familie in der bisherigen Wohnung bis zum kommenden Sommer werde bleiben müssen. Auf die Frage, warum ihm die Trennung notwendig scheine, erklärte er, daß das Haus, worin sie wohnten, ihm gehöre, und kurze Zeit vorher, ehe er sich entschloß, es zu verlassen, habe er den Holzbedarf für einen ganzen Winter einbringen lassen; daher sollten sie nach seinem Empfinden so lang dort bleiben, bis das Holz aufgebraucht wäre, damit kein Verlust entstünde. Sofort wurde er darauf aufmerksam gemacht, daß jeder Mieter des Hauses den vollen Wert des Holzes gewiß bezahlen würde, etwas ganz Selbstverständliches, woran er offenbar nicht gedacht hatte. Er und seine Familie banden sich tatsächlich mit selbstgemachten Stricken an eine Holzbeige. Wie das Käferchen auf dem Tisch sahen sie eine Begrenzung, wo keine Begrenzung war. An wie viele Holzbeigen sind wir wohl gebunden? Wahrlich, wir schmieden uns unsere eigenen Ketten durch Unwissenheit, die das sogenannte sterbliche Gemüt allein für Begrenzungen hält, während es für Gott, das göttliche Gemüt, keine Knechtschaft, keine Begrenzung, geben kann und der Mensch, Sein Bild und Gleichnis, frei ist.
Auf Seite 227 von „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift”, dem Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft, schreibt unsere geliebte Führerin: „Bürger der Welt, nehmt die herrliche ‚Freiheit der Kinder Gottes‘ an und seid frei!” Was müssen wir nun tun, um diese „Freiheit der Kinder Gottes” anzunehmen? Da die menschliche Annahme für ein Begrenzungsgefühl verantwortlich ist, so muß der Schüler der Christlichen Wissenschaft erkennen, daß die richtige Lösung jeder an ihn herantretenden Frage nur im Reich des Denkens zu suchen ist.
Unsere Führerin sagt auf Seite 442 des christlich-wissenschaftlichen Lehrbuchs: „Wenn Christus eine Sündenoder Krankheitsannahme in eine bessere Annahme umwandelt, dann geht die Annahme in geistiges Verständnis über, und Sünde, Krankheit und Tod verschwinden”. Offenbar muß also die Wahrheit die Veränderung bewirken. Nichts war an der Bleistiftlinie, die das Käferchen in Knechtschaft zu halten schien, zu ändern. Das kleine Geschöpf brauchte bloß zu wissen, daß es nur eine Linie war, über die es mühelos hätte gehen können. Nichts brauchte an der Holzbeige, die die Familie des jungen Mannes an einen Ort festzuhalten schien, getan zu werden, sondern die Furcht, daß das Holz nicht preiswert verkauft werden könnte, mußte überwunden werden. So verhält es sich mit den Begrenzungen jeder Art. Der Glaube, sie seien Wirklichkeiten oder Hindernisse, muß geändert werden.
Doch es ist vielleicht hilfreich, darüber nachzudenken, was dieses sogenannte sterbliche Gemüt ist oder nicht ist, da es, wie erwähnt, für die Begrenzungen, die die Menschen erfahren, verantwortlich zu sein scheint. Der junge Schüler spricht viel vom sterblichen Gemüt, und wir hören oft Äußerungen wie: „Wenn ich nur dieses schreckliche sterbliche Gemüt losbekommen könnte!”, als ob das sterbliche Gemüt etwas Wirkliches wäre, das vernichtet zu werden brauchte. Was bildete nun in den beiden erwähnten Beispielen das sterbliche Gemüt? War es nicht eine bloße Abwesenheit rechten Wissens? Und ist das sterbliche Gemüt je etwas anderes, oder kann es etwas anderes sein als eine Abwesenheit rechten Wissens oder Verständnisses, das der wirkliche Mensch vom göttlichen Gemüt widerspiegeln kann und tatsächlich widerspiegelt?
Indem Mrs. Eddy das menschliche oder fleischliche Denken „sterbliches Gemüt” nennt, gibt sie eine Bezeichnung, um die scheinbare Abwesenheit der wahren Intelligenz auszudrücken, genau so wie wir den Ausdruck „Unwissenheit” gebrauchen, um einen Mangel an bestimmtem Wissen zu bezeichnen. Unwissenheit ist nichts Wirkliches. Selbst wenn ihr ein Name gegeben worden ist, brauchen wir sie nur durch die Wahrheit zu ersetzen, um sie zu beseitigen. So verhält es sich auch mit dem sterblichen Gemüt und seinen Scheinwirkungen — Sünde, Krankheit und Begrenzung aller Art; wir brauchen weder gegen das sogenannte sterbliche Gemüt noch gegen etwas, was für das sterbliche Gemüt ein irriger Zustand zu sein scheint, etwas zu tun. Wir brauchen nur das Licht des göttlichen Gemüts einzulassen durch unser rechtes Wissen, das wissenschaftliches Wissen oder geistiges Verständnis ist, damit jedes Begrenzungsgefühl verschwinde.
Wenn wissenschaftliches Wissen die Stelle der menschlichen Annahme einnimmt, verschwinden die Wirkungen der Annahme, und nur das Erlernen der Christlichen Wissenschaft gibt uns die unbedingten Regeln, dieses wissenschaftliche Wissen zu erwerben. Die bloße Erklärung irgend eines Satzes aus unserem Lehrbuch genügt nicht, den Irrtum der Sinne zu überwinden; sie muß von der geistigen Vergegenwärtigung dessen, was die Wahrheit des Satzes in sich schließt, begleitet sein. Hätte z. B. das Käferchen bedenken können, daß es im Gemüt keine Begrenzungen gebe, und wäre dennoch in der Erwartung, ein Wunder werde eine Öffnung bewirken, innerhalb der Linie im Kreise umhergegangen, so hätte selbst die Wahrheit der Behauptung für das Tierchen die Aufgabe nicht lösen können. Die Lehre hieraus ist also, daß genug besondere Arbeit getan werden muß, um den Glauben an das falsche Zeugnis des sterblichen Gemüts zu vernichten, ehe Heilung bewirkt werden kann.
Angenommen, die Frage, die an einen Menschen, der sich an die Christliche Wissenschaft um Hilfe wendet, herantritt, sei falsche Umgebung, Mangel an Gelegenheit oder die Notwendigkeit, eine harmonische Stellung zu finden. Für diesen besteht die Gefahr, daß er wie das nach einer Öffnung suchende Käferchen im Kreise umhergeht. Doch worin besteht gerade hier das rechte Wissen, das dieses Bedürfnis befriedigt? In den Psalmen lesen wir, daß in der Gegenwart Gottes „Freude die Fülle” ist. In erster Linie muß man daher wissen, daß der einzig wahre Ort in der Gegenwart Gottes ist, und daß Ort daher nicht eine Örtlichkeit sondern ein wahrer Gesinnungszustand ist. Jede Idee des Gemüts ist immerdar an ihrem harmonischen Ort. Um dies in seine gegenwärtige Erfahrung zu bringen, braucht man nicht nach einer materiellen Örtlichkeit umherzusuchen, sondern man muß anfangen, sich zu vergegenwärtigen, daß der Mensch seine Freude in der Gegenwart Gottes finden muß, weil er sich immer in dieser Gegenwart befindet. Man muß diese Freude wissen und fühlen und seine Geborgenheit in dieser Gegenwart, die der einzig wirkliche Ort ist, den man je finden kann, erkennen. Die Gegenwart Gottes wissen heißt, die Gegenwart des Guten trotz des Zeugnisses der leiblichen Sinne wissen. In dem Verhältnis wie man die Freude, die jenes Wissen begleitet, empfindet, findet man, daß sich der gegenwärtige höchste Begriff von Ort in der eigenen Erfahrung entfaltet; denn der dem Rechten nächste Ort ist dort, wo man die größte Freude genießt, wo man seine Fähigkeiten am besten anwenden kann und die hilfreichste, harmonischste Tätigkeit findet.
Jesus sagte: „Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen”. „Am ersten nach dem Reich Gottes” trachten heißt, jeden Augenblick des Tages „unter dem Schirm des Höchsten” wohnen, an dem Ort, der voller Freude, Dankbarkeit und Freiheit, der frei von Furcht, Angst und Zweifel ist. Wie nun das göttliche Gemüt die Frage lösen wird, ist nicht die Angelegenheit dessen, der bestrebt ist, unter dem „Schirm” zu wohnen; denn Gott „hat unendliche Mittel, mit denen [Er] die Menschheit segnet” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 60), und menschliches Streben und materielles Planen können rechtes Wissen nicht widerspiegeln. Jeder muß dadurch, daß er das Gesetz Gottes als das einzig wirkliche Gesetz, das wirken kann, erkennt, in seinem Denken jede Lüge, die zu wirken scheint, umkehren. Gottes Regierung des Menschen kommt in dem Maße zum Ausdruck, wie wir durch unser Verständnis des Guten, durch rechtes Wissen, regiert werden.
Wer sich selbst erhöht, der soll erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der soll erhöht werden.— Lukas 14:11.
