Im christlich-wissenschaftlichen Lehrbuch, „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift”, schreibt unsere geliebte Führerin, Mary Baker Eddy, auf Seite 261 und 262: „Das Gute fordert vom Menschen, daß er zu jeder Stunde das Problem des Seins ausarbeite”. Diese Erklärung schien erschreckend, als sie zum erstenmal über dem Denken einer Forscherin aufdämmerte. Sie schien so gebieterisch, so all-umfassend, so unumgänglich. Die Betreffende dachte: Was soll aus den vielen an unsere Zeit gestellten scheinbaren materiellen Forderungen werden, die uns nicht zu jeder Stunde dienen lassen? Was wird aus dem Vergnügen oder der Erholung, die wir als unser Bedürfnis und Recht ansehen? Das waren verwirrende Fragen. Sie erkannte, wie weit entfernt sie von der Forderung war, Gott, dem Guten, jede Stunde ihres Daseins zu weihen. Sie fragte sich: Könnte ich sagen, daß ich selbst nur eine Stunde täglich in der Erfüllung dieser Forderung zubringe? Der menschliche Sinn machte die immer drängenden Pflichten geltend, daher der Mangel an Zeit für religiöses Forschen und Betrachten. Doch das Licht begann über dem beunruhigten Denken aufzudämmern. Die alten Vorstellungen von Religionsübung fingen an, dem neuen Gesichtspunkte, den die Christliche Wissenschaft bringt, zu weichen.
Allmählich kam die Erkenntnis, daß die Forderung des Guten nicht darin besteht, daß man jede Stunde den himmlischen Vater knieend anfleht, etwas zu tun; auch nicht darin, daß man stundenlang die Kranken besucht, um in traurigem Mitleid mit ihnen über ihre Leiden zu reden; noch daß man dem Gefangenen in seiner Zelle Aufmerksamkeiten aufdrängt, die das Denken nicht auf eine bessere Grundlage emporheben; oder daß man sich von der Welt zurückzieht und ein Büßerleben führt. Wahrlich, allzulang hat die Welt das Versagen dieser Übung sogenannter Religion, ihre Nöte zu heilen, gesehen. Die Christliche Wissenschaft lehrt, daß man die Forderungen des Guten dadurch erfüllt, daß man die Religion in die täglichen Angelegenheiten, in die Weltangelegenheiten und in die Fragen der Menschheit bringt.
Nach dieser neuen Ansicht, dem Guten zu dienen, ist es nicht unbedingt notwendig, daß wir unsere Freundschaften aufgeben; wir geben nicht unsere Freude und unser Glück auf. Das Kind braucht nicht auf seine unschuldigen Vergnügen, der Erwachsene nicht auf seine rechtmäßige Erholung, seine Freude an der Natur, an der Kunst, an der Musik und am Schönen zu verzichten. Jeder kann dagegen zu jeder Stunde — bei jeder Beschäftigung oder Tätigkeit — die Güte Gottes genießen, die Liebe, die die Widerspiegelung der göttlichen ist, die Geistigkeit, die die Materialität verdrängt, die Intelligenz, die führt und schützt. Christus Jesus war Zimmermann, während er sich auf seine große Mission vorbereitete. Überdies war er ein guter Zimmermann, bis er berufen wurde, seine ganze Zeit dem Predigen des Evangeliums der frohen Botschaft und dem Heilen der Kranken und Sünder zu widmen. Doch auch dann zog er sich noch zuweilen auf kurze Zeit zurück, um zu beten und sich geistig zu erfrischen; und sogar nach seiner Auferstehung wandelte er mit seinen Jüngern und aß mit ihnen Brot, während er sie lehrte und sie geistig speiste. In der Christlichen Wissenschaft lernen wir liebevoll und still in unserem gegenwärtigen Beruf dienen, bis Gott unsere Grenzen erweitert.
Geben wir uns bescheiden solchen Beschäftigungen hin, die anscheinend niedrig, langweilig, unerfreulich sind,— Aufgaben, die jedoch notwendig zu sein scheinen? Dann können wir durch das Licht der Wahrheit, durch verändertes Denken, diese Aufgaben in erfreuliche verwandeln; und wir finden, daß die Mühseligkeit dahinschwindet, und daß jede Handlung eine Gelegenheit wird, Geduld, Vollkommenheit, Vollbringen, Liebe auszudrücken. Diese liebliche Rose des Charakters, die sich unter jeder Art von Umständen entwickelt, hat herrliche Blumenblätter wie Demut, Pünktlichkeit, Gehorsam, Gründlichkeit, Ordnung. Solche Eigenschaften erfüllen gewiß die Forderungen des Guten; gewiß segnen sie jede Stunde. Kann man sich eine Arbeit oder ein Spiel denken, das durch sie nicht verbessert wird? Verschwunden ist das irrige Gefühl, das so oft von denen, die diese Wahrheit nicht kennen — manchmal aber auch von denen, die sie kennen — zum Ausdruck gebracht wird, bis sie sich von dieser Einflüsterung des Bösen abwenden,— von dem müden Seufzer, der klagt: Wieder ein Tag! Jahraus, jahrein ein Tag wie der andere! Statt dessen kommt nun die erfreuliche Versicherung: Wieder eine Gelegenheit, wieder ein Vollbringen, besserer Fortschritt und höhere Beweisführung!
Dann begleitet uns Fortschritt, dann entdecken wir, daß höhere Forderungen an uns gestellt werden, die zu erfüllen uns sowohl die Fähigkeit als auch die Gelegenheit gegeben wird. Wenn eine Gelegenheit sich bietet, laß ein Begrenzungsgefühl im Denken nur flüstern: du kannst nicht! du hast keine Zeit! du bist nicht fähig! und rasch antwortet die Wahrheit, daß Zeit nur ein materieller Begrenzungsbegriff ist, der uns nicht regieren kann; daß in Gottes Stärke die Fähigkeit unendlich ist, und wir jede Forderung des Guten gewiß erfüllen können. Eine Christliche Wissenschafterin sah einmal, wie eine herrliche Gelegenheit des Dienstes in unserer Bewegung ihr beinahe entging, eine Gelegenheit, die jedoch durch die augenblickliche Erkenntnis ergriffen wurde, daß wir in Gottes Kraft tun können, wozu wir aufgefordert werden; und dieser Dienst war viele Jahre lang für sie und andere eine Segensquelle.
So dienen manche von uns in unseren Kirchen und Vereinigungen, lehren in unseren Sonntagschulen, verbreiten das Evangelium durch unsere Literatur, heilen die Kranken und Sünder. In dieser Weise besuchen wir wahrlich die Armen, die Kranken, die Gefangenen, erleichtern die schweren Lasten, ziehen uns im Geiste von der Welt zurück und heilen sie dennoch. Vielleicht wird durch dieses natürliche Wachstum der Arbeiter allmählich befähigt, seine Zeit als ausübender Vertreter zuzubringen und so in höherem Grade Jesu Ermahnung an die elf Jünger nach seiner Auferstehung zu erfüllen: „Gehet hin in alle Welt und prediget das Evangelium aller Kreatur”. Kann es einen höheren Dienst geben?
Oft hört man sagen — vielleicht haben wir es selbst schon gedacht —, daß die Christlichen Wissenschafter, da sie ein vollkommenes Vorbild und eine vollkommene Lehre haben, selbst augenblicklich vollkommen sein sollten. Doch die Erfahrung lehrt, daß wir der Annahme nach alle noch weit vom Ziele entfernt sind; und nüchternes Denken zeigt, daß wir alle als Einzelpersonen von dem Punkte an wachsen müssen, wo die Christliche Wissenschaft uns findet,— ein Wachsen, das nicht in einem Augenblick vollbracht wird. In unseren Zweig-Kirchen wie auch sonstwo lernen wir verstehen, daß die Worte unserer Führerin in „Miscellaneous Writings” (S. 224) wahr sind: „Wir sollten eingedenk sein, daß die Welt groß ist; daß es tausend Millionen verschiedene Arten des menschlichen Willens, menschlicher Meinungen und Bestrebungen, des Geschmacks und der Liebe gibt; daß sich jeder einzelne von allen anderen durch seine Vergangenheit, Veranlagung, Erziehung und Gemütsart unterscheidet”, und daß wir daher, wie sie zum Schlusse sagt, „mit den kleinsten Erwartungen aber mit der größten Geduld ins Leben hinaustreten sollten”. Nicht nur im Familienleben, in den Geschäftsbeziehungen, im gesellschaftlichen und amtlichen Wirkungskreise sondern auch in unseren Kirchen müssen wir beständig dieser Worte der Weisheit gedenken.
Besonders in unseren Kirchen finden wir die Notwendigkeit für geordnete, aufbauende, umsichtsvolle und treue Arbeit; doch können wir aufgefordert werden, geduldig und liebevoll zu warten, bis wir alle von Angesicht zu Angesicht sehen. Sollte es, wie es manchmal vorkommt, zwei Ansichten geben, und die Einflüsterung kommen, getrennt zu arbeiten, wenn auch im Geiste Abrahams, als er zu Lot sagte: „Laß doch nicht Zank sein zwischen mir und dir und zwischen meinen und deinen Hirten; denn wir sind Gebrüder”,— dann sollte man nicht vergessen, daß der eine oder der andere oder beide im Irrtum sein können. Unter einem scheinbar weisen und guten Vorschlag verstecken sich vielleicht Selbstrechtfertigung, Selbstgerechtigkeit, Herrschsucht, Meinungsstolz oder sonst ein lauerndes Übel. Selten, wenn je, brauchen Gottes Leute sich zu trennen; denn sie streben ernstlich in derselben Richtung und trachten danach, daß sie von demselben Gemüt geführt werden.
Wachstum wird in der Regel nicht durch Trennung sondern durch Vervielfältigung gefördert, selbst wenn das Warten auf Vervielfältigung eine Gärungszeit in sich zu schließen scheint. Durch die Erfahrung einer solchen Zeit, sei sie auch noch so bitter, werden wir gewiß erleben, daß die Unreinheiten dahinschwinden. Durch rechtes Streben sehen wir die Notwendigkeit der Selbsterkenntnis, der Selbstzurechtweisung, der Geduld, und vor allem der Liebe besser ein; und infolgedessen entwickeln sich unsere Kirchen höher und werden stärker.
In Weltfragen und in Volksangelegenheiten, von denen vielleicht manche von uns glauben, sie brauchen sich nicht damit zu befassen, lernen wir durch die Christliche Wissenschaft die dringende Forderung der Ausarbeitung der Frage des Seins erkennen. Es wird vielleicht dagegen eingewendet: Wie kann jemand, der so unbedeutend ist wie ich, etwas zu der Lösung der Weltfragen beitragen? Die Lehre wird in dem Verschen angedeutet:
„Was, wenn ein leichter Regen sagte:
,Der kleine Tropfen, der ich bin,
Kann nicht die dürre Erd’ erquicken;
Ich bleibe lieber, wo ich bin‘?”
Wir lernen erkennen, daß wir gute Bürger, rechte Denker, tätige Arbeiter in der Sache der Gerechtigkeit sein müssen, und daß, wie die durstige Erde ohne jeden einzelnen Tropfen nicht vollständig erfrischt würde, das Ganze nicht ohne den kleinen Sauerteig unseres Gedankens durchsäuert wird.
Es kann keine bessere Zusammenfassung der Ausarbeitung der Frage des Seins und dessen, was sie für die Menschheit bedeutet, gefunden werden als jene erstaunliche und weittragende Erklärung in unserem Lehrbuch (S. 340), wo unsere Führerin sagt: „Der eine unendliche Gott, das Gute, vereinigt Menschen und Völker; richtet die Brüderschaft der Menschen auf; beendet die Kriege; erfüllt die Schriftstelle:, Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst‘; vernichtet heidnische und christliche Abgötterei — alles, was in sozialen, bürgerlichen, kriminalen, politischen und religiösen Gesetzen verkehrt ist; stellt die Geschlechter gleich; hebt den Fluch auf, der auf dem Menschen liegt, und läßt nichts übrig, was sündigen, leiden, was bestraft oder zerstört werden könnte”. Durch die in der Christlichen Wissenschaft gelehrte Wahrheit werden die Fragen der ganzen Welt gelöst und die Leiden der Menschheit zerstört werden, und der Mensch wird in seinem wahren Sein als der Sohn Gottes erscheinen.
Es ist das Herz ein trotzig und verzagt Ding; wer kann es ergründen? Heile du mich, Herr, so werde ich heil; hilf du mir, so ist mir geholfen; denn du bist mein Ruhm.— Jeremia 17:9, 14.