Auf Seite 463 des christlich-wissenschaftlichen Lehrbuchs, „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” von Mary Baker Eddy, lesen wir: „Eine geistige Idee trägt kein einziges Element des Irrtums in sich, und diese Wahrheit entfernt alles Schädliche in der richtigen Weise”. Dies hat der Verfasserin dieser Betrachtung sehr geholfen, das Gleichnis Jesu vom Unkraut unter dem Weizen zu verstehen. In diesem Gleichnis wird erzählt, daß ein Eigentümer seinen Acker sorgfältig mit gutem Samen besäte, und daß später Unkraut unter dem Weizen wuchs. Als dies die Knechte entdeckten, fragten sie, ob sie das Unkraut sofort ausjäten sollten; aber sie wurden angewiesen, alles bis zur Ernte miteinander wachsen zu lassen, damit dann die Trennung ohne die Gefahr der Beschädigung oder Ausreißung des Weizens vorgenommen werden könne.
Als Jesus von seinen Jüngern über die Bedeutung dieses Gleichnisses befragt wurde, verglich er den Säemann mit „des Menschen Sohn”, den Weizen mit „den Kindern des Reichs”, das Unkraut mit „den Kindern der Bosheit”, den Acker mit „der Welt”, und die Schnitter mit „den Engeln”. Auch verglich er die Ernte mit dem „Ende der Welt”. Wir wissen, daß Christus Jesus selbst „des Menschen Sohn” war, der den Samen der Wahrheit,— der Wahrheit über „die Kinder des Reichs”, über die Wirklichkeit de geistigen Menschen,— auf den Acker des menschlichen Bewußtseins säte. Mrs. Eddy erklärt im Glossarium von Wissenschaft und Gesundheit (S. 591) den „Menschen” folgendermaßen: „Die zusammengesetzte Idee des unendlichen Geistes; das geistige Bild und Gleichnis Gottes; die volle Darstellung des Gemüts”. Und Christus Jesus sagte vom Menschen: „Das Reich Gottes ist inwendig in euch”. Da das Unkraut oder „die Kinder der Bosheit” das Gegenteil dieser Wahrheit sind, müssen sie die Lüge sein, die behauptet, der Mensch sei materiell erschaffen und habe ein Gemüt, das sowohl gut als auch böse sei.
Die böse Saat wurde, wie es im Gleichnis heißt, in das menschliche Bewußtsein gesät, während „die Leute schliefen”. Sogar heute scheint die Irrtumssaat, während wir geistig schlafen und das Denken durch den Traum des materiellen Sinnes von der Betrachtung Gottes und des Menschen, wie er in der Wahrheit ist, abgelenkt wird, unbeachtet Einlaß zu erlangen und aufzugehen. Gewöhnlich ist es nicht schwierig, das gröbere Unkraut, wovor wir in der Bibel wiederholt gewarnt werden, zu sehen. Es scheint uns sehr viele Unannehmlichkeiten zu bereiten; doch mit dem ernsten Verlangen, es auszurotten, können wir durch Forschen in der Bibel und im christlich-wissenschaftlichen Lehrbuch seinen falschen Anspruch auf Wirklichkeit erkennen. Der Mensch fängt dann an, uns zu erscheinen, wie er in Wahrheit ist, nämlich so, daß er „kein einziges Element des Irrtums” in sich trägt; und diese Wahrheit wird dieses Unkraut in der richtigen Weise entfernen.
Doch solche Gedanken, die versuchen, sich als gut auszugeben, wachsen anfangs unerkannt. Sie verstecken sich sogar hinter guten Beweggründen als Entschuldigung, daß sie gehegt werden; und wenn sie entdeckt sind, rufen sie den falschen Stolz zum Zeugen für ihre Berechtigung an. Sie versuchen sogar, die wahren Gedanken oder „die Kinder des Reichs” zu verdrängen und auf diese Art die Ernte scheinbar zu verzögern. Eine Lüge kann in Wirklichkeit nie eine Wirkung auf die Wahrheit haben; und in dem Augenblick, wo ihre Falschheit klar erkannt wird, hört sogar ihr Scheindasein auf. Dann zeigt die Wahrheit, daß die Lüge „die Kinder des Reichs” nie berührt hat; denn sie war nie ein Gedanke Gottes.
Zwei Arten des Unkrauts, die oft unbeachtet auf unserem Gedankenacker wachsen, sind Kritik und Verzeihung; und die Art und Weise, wie der Irrtum versucht, beide gegen einander auszuspielen, ist oft die Ursache von viel Gedankenverwirrung, bis wir erkennen, es könne sich um den Fall einer Nachahmung von etwas Wahrem handeln. Die allgemeine Bedeutung von Kritik ist Tadel und Verurteilung; doch sie kann auch als richtiges Beurteilen erklärt werden. Daher kann sie, wenn der Irrtum aufgedeckt wird, sich das „Aufdecken des Irrtums” nennen; während andererseits die Verzeihung ausruft: „Ich vergebe ja nur”. Wir wollen sehen, ob diese Behauptungen wahr sind.
Die Tatsache, daß es in der göttlichen Liebe keine Verdammnis gibt, zeigt zweifellos das Wesen der falschen Kritik. Die falsche Kritik und das richtige Aufdecken des Irrtums arbeiten sehr verschieden. Die falsche Kritik hält sich im Dunkel auf, hinter dem Rücken eines Bruders; sie beschränkt sich selten auf das eigene Denken, sondern ist bestrebt, ihre sogenannten Entdeckungen zu verbreiten, bis sie den Frieden aller bedroht, die damit in Berührung kommen,— oft ganzer Gruppen von Menschen. Sie läßt das Böse als Teil unseres Bruders erscheinen, stattet ihn mit empfindlichen Gefühlen aus, die verletzt werden können, wenn er entdeckt, daß ihm das Böse angehängt wird. Sie sieht nicht den Menschen Gottes, den vollkommenen Menschen, an, sondern beansprucht, den Menschen persönlich zu machen und ihn als verderbt — verderbt durch das Wachsen von Unkraut auf seinem Gedankenacker — anzusehen, und sie verdammt ihn deswegen. Dies können wir gewiß nicht als die rechte Aufdeckung des Irrtums hinnehmen, als die Art und Weise, wie die Wahrheit den Menschen ihre Fehler zeigt.
Den Irrtum richtig aufdecken heißt erkennen, daß das Böse beansprucht, ein Teil des Menschen zu sein, und damit beginnen, diesen Anspruch als unwahr zu beweisen, indem wir liebevoll die unpersönliche Trennung des Bösen von unserem Begriff vom Menschen machen. In dieser Weise wird die scheinbare Wirklichkeit des Irrtums in unserem Denken zerstört, und unserem Bruder wird geholfen, für sich selbst das Gleiche zu tun, wenn er dazu willig ist. Es kann sein, daß der menschliche Schritt unvermeidlich wird, ihm liebevoll und freundlich den Irrtum zu zeigen, der versucht, sein Denken ganz in Anspruch zu nehmen; doch wenn unser Sinn von der Wahrheit über die Nichtsheit des Irrtums nicht klar genug ist, ihn unbedingt vom Menschen zu trennen,— mit andern Worten, wenn wir nicht frei sind vom geringsten Gefühl der Verdammung,— so wird unsere Zurechtweisung als Einmischung, als unangebrachter Eifer unsererseits erscheinen. Viel guter Weizen, der gut aufgegangen war und geblüht hatte, ist im Wachstum gehindert oder sogar ausgerissen worden, weil jemand darauf bestand, seinem Bruder beim Ausjäten des Unkrauts auf seinem Acker zu helfen, ehe die rechte Zeit für dessen Zerstörung gekommen war,— d. h. ehe er bereit war, seinen Fehler einzusehen. Jesus ermahnte uns, zuerst den Balken aus dem eigenen Auge zu ziehen, ehe wir versuchen, den Splitter aus unseres Bruders Auge zu ziehen.
Gerade hier möchte der Irrtum einwenden: Aber wenn wir gegen diesen Fehler nichts unternehmen, vergeben wir doch das Böse. Vergebung bedeutet Erlassen der Strafe für unrechtes Handeln. Doch auf Seite 497 von Wissenschaft und Gesundheit lesen wir im dritten Glaubenssatz der Christlichen Wissenschaft: ”Wir bekennen Gottes Vergebung der Sünde in der Zerstörung der Sünde und in dem geistigen Verständnis, welches das Böse als unwirklich austreibt. Aber die Annahme von Sünde wird so lange bestraft, wie die Annahme währt”. Dies dürfte wohl kaum mit der gewöhnlichen Bedeutung von Vergebung übereinstimmen, die die Strafe erlassen möchte, sogar während sie zugibt, daß das Böse noch vorhanden ist. Das Bemänteln einer Sünde in uns selbst oder in anderen ist etwas Böses, das sehr trügerisch ist; seine Vorwände sind gut, aber es (das Böse) „wird so lange bestraft, wie die Annahme währt”.
Besonders bei der Kirchenarbeit können wir nicht genau genug sein im Unterscheiden zwischen falschem Urteilen und dem richtigen Aufdecken des Irrtums, zwischen Verzeihung des Bösen und wahrer Vergebung, weil dadurch, daß man falsches Urteilen hochkommen läßt, was es sicher tut, wenn es einmal Fuß gefaßt hat, gerade die Bestimmung des Begriffs „Kirche” im Glossarium von Wissenschaft und Gesundheit (S. 583)—„Der Bau der Wahrheit und Liebe”— geleugnet wird; denn wenn man falschem Urteil auf den Grund geht, erweist es sich als Mangel an Liebe, der diesen Bau zerstören möchte. Andererseits läßt die Verzeihung zu, daß einen die Persönlichkeit so sehr mesmerisiert, daß man des Menschen wahre Einzelwesenheit vorübergehend ganz übersieht.
Daher müssen wir standhaft sein in unserem Verständnis dessen, daß „eine geistige Idee kein einziges Element des Irrtums in sich trägt”; denn die Geltendmachung, daß der Irrtum etwas tun kann, was das Wachstum hindert, oder die „Kinder des Reichs” verdrängt, ist sehr hartnäckig. Doch wir brauchen nicht zu glauben, daß das Böse in einer Kirche mehr Gegenwart und Macht habe als in einer Person; und durch die liebevolle, geduldige Treue derer,— seien es ihrer wenige oder viele —, die unerschütterlich alles Böse als unwirklich erkennen, wird die Trennung gemacht, und die Ernte, die im Gleichnis „das Ende der Welt” heißt, die schließliche Zerstörung jedes irrigen Glaubens, wird erscheinen. Dann werden die Schnitter,— die Engel, Gottes Gedanken,— ihre Arbeit, die Zerstörung des Unkrauts, vollendet haben, wie es am Schlusse des Gleichnisses heißt: „Des Menschen Sohn wird seine Engel senden; und sie werden sammeln aus seinem Reich alle Ärgernisse und die da Unrecht tun”, ja, „alles Schädliche”.
