Schatten kann als vorübergehende Dunkelheit oder als Schutz oder als Zuflucht erklärt werden. Während sich diese Erklärungen auf den ersten Anblick gewissermaßen zu widersprechen scheinen, stimmen sie in Wirklichkeit vollkommen überein. In dem schönen Psalm, worin David mit so beredten Worten seinem Vertrauen auf des Vaters unfehlbaren Schutz und Fürsorge Ausdruck gibt, lesen wir: „Und ob ich schon wanderte durch das Tal des Todesschattens (engl. Bibel), fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich”. Hier ist nur der Todesschatten durch das Bewußtsein des immer gegenwärtigen Lebens, Gottes, der immer bei uns ist, zu vertreiben. Jede scheinbare Dunkelheit ist nur der vorübergehende Schatten einer falschen Annahme, die als Wirklichkeit angenommen sein möchte; und wir werden durch das Verständnis, daß Gott unser Leben ist, getröstet und geschützt.
Alle Schwierigkeiten sind nur Schatten auf dem Angesichte der Wirklichkeiten. Es ist nichts Wahres oder Wirkliches in einer falschen Erklärung oder in etwas, was dem, was wirklich ist, widerspricht. Es würde schwer fallen, jemand zu finden, der etwas, was den Richtigkeiten des Einmaleins widerspricht, viel Beachtung schenkte, außer daß er seine Verwunderung über die Nutzlosigkeit der Unrichtigkeit zum Ausdruck brächte. Doch unser Anliegen, was es auch sei, ist nur etwas, was einem Ausdruck der unendlichen Güte Gottes widerspricht, und es ist gerade so nutzlos wie etwas, was der Tatsache, daß zweimal zwei vier ist, widerspricht.
Der Glaube an Unfähigkeit mit seiner verderblichen Wirkung von Begrenzung und Mißerfolg ist nur ein Schatten, der unsere Einheit mit dem einen Gemüt, der unendlichen Weisheit und Erkenntniskraft, die alles ist und alles tut, verdecken will. Nur Unwissenheit über die Untrennbarkeit Gottes und des Menschen oder ein falscher Verlaß auf menschliche Fähigkeit verursacht den Schatten des Mißerfolgs. Nur wenn wir uns vom begrenzenden Glauben an menschliche Persönlichkeit der Erkenntnis unserer uneingeschränkten geistigen Eigenart zuwenden, betreten wir das Feld zuversichtlichen Vollbringens.
Der Maßstab wahren Vollbringens ist jedoch unser Verständnis Gottes. Da nichts unsern Fortschritt in dieser Richtung hindern kann, kann nichts unsern Erfolg bei jedem rechten Streben hindern. Wir können zuweilen geneigt sein, dem Glauben an Ungerechtigkeit, Groll oder Selbstverdammung zu frönen; doch diese Irrtümer gehören zu dem falschen Augenschein, der den Schatten wirklich erscheinen lassen möchte. Die einzige Person in der Weltgeschichte, die nie irrte, Christus Jesus, sagte: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Der Sohn kann nichts von sich selber tun, sondern was er siehet den Vater tun”, und er machte auch folgende sehr bestimmte Erklärung: „Ich kann nichts von mir selber tun. Wie ich höre, so richte ich, und mein Gericht ist recht; denn ich suche nicht meinen Willen, sondern des Vaters Willen, der mich gesandt hat”.
Selbstverdammung ist die Folge des Zugeständnisses, daß wir versuchten, etwas aus uns selber zu tun, nicht was wir sehen den Vater tun, daß wir trachteten, unsern eigenen Willen statt „des Vaters Willen” zu tun. Selbstverdammung, Eigenliebe und Eigenwille sind die Schatten, die unsere Vergegenwärtigung der Liebe, die immer tröstet und nie verdammt, immer heilt und nie betrübt, verdunkeln möchten.
Sollte es vorgekommen sein, daß wir unsern eigenen Willen statt „des Vaters Willen” suchten, so laßt uns keine Zeit mit Bedauern oder Verurteilen vergeuden, sondern für jede Lehre, die wir aus der Erfahrung ziehen können, dankbar sein. Gelegenheit ist immer vorhanden. Versäumte Gelegenheit ist nur ein Teil der Fabel, daß der Mensch das Gute verlieren könne, daß seine unauflösliche Gemeinschaft mit Gott, dem Guten, aufgelöst werden könne. Können wir, auch wenn wir unsere Vorstellungskraft noch so sehr anstrengen, Mißerfolg mit Ihm in Verbindung bringen?
Die Christliche Wissenschaft lehrt, daß menschliches Leiden in allen seinen Erscheinungen nur das Gegenteil des Wahren ist, der Schatten, der die Wirklichkeit und Immergegenwärtigkeit des Guten verdecken möchte. Durch die göttliche Wissenschaft lernen wir verstehen, daß „die Wahrheit nicht umgekehrt werden kann; die Umkehrung des Irrtums dagegen ist wahr”, wie Mrs. Eddy in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 442) schreibt, und daß „das höchste Unrecht nur ein angebliches Gegenteil des höchsten Rechts ist” (S. 368 dess. Buchs). Was für eine herrliche Entfaltung harrt doch dessen, der hartnäckig an Mißerfolg, versäumte Gelegenheit oder Unfähigkeit glaubte, wenn er, sei es auch nur in geringem Maße, erkennt, daß in dem Augenblick, wo er sich der Wahrheit zuwendet, zuversichtliches Vollbringen stets möglich, unbegrenzte Gelegenheit immer vorhanden, Fähigkeit unbegrenzt ist!
Vertauscht man in dieser Weise den falschen Begriff von Erfolg oder Mißerfolg—die Folge des menschlichen Glaubens an materielle Gelegenheit, materiellen Umstand, materiellen Zustand, materielle Vererbung, Erziehung, Umgebung, Persönlichkeit, Farbe, Glaubensgemeinschaft oder Rasse—gegen das geistige Verständnis seiner wahren Verwandtschaft mit dem Vater aller, der keine Bevorzugung kennt, dessen Liebe grenzenlos und unparteiisch ist, und der „die Person nicht ansieht”, so vergehen die Schatten menschlicher Annahme, und die Wirklichkeiten des geistigen Verständnisses treten in Erscheinung. Dieser Wechsel ist eine rein seelische Umwandlung durch rechtes Denken, das die Wahrheit nicht schafft sondern bestätigt, während irriges Denken die Wahrheit nicht zerstört sondern ihr nur der Annahme nach widerspricht. Der Widerspruch ist der Schatten, der die Wirklichkeit verdunkeln möchte, und dieser Schatten wird durch das bewußte beständige, einsichtsvolle Bekräftigen der Wahrheit, das Verständnis der immer gegenwärtigen Güte Gottes, zerstreut. Dieses Vertreiben der Schatten falscher Annahmen aus dem sterblichen Bewußtsein enthüllt die Wirklichkeit des immer gegenwärtigen Guten in der menschlichen Erfahrung und richtet sie hier und jetzt auf.
Es kommt nicht darauf an, wie wenig oder wie viel wir von Gott verstehen, sondern welchen Gebrauch wir von unserem Verständnis machen. Der vergrabene Zentner ist verloren. Wir brauchen uns vor nichts zu fürchten; denn der Vater aller sagt: „Ich will mit deinen Haderern hadern”. Unser geistiges Verständnis von Ihm ist der Ausdruck Seines unwandelbaren Gesetzes, weil es die Tätigkeit des göttlichen Prinzips in unserem Denken ist. Dieses Verständnis, sei es gering oder groß, ist unser immer gegenwärtiger Erretter von jedem drohenden Schatten. Vom falschen Sinn von Schatten befreit, gelangen wir in den wahren Schatten, der uns vor allem Bösen verbirgt,—gelangen wir zu der undurchdringlichen Zuflucht, „unter den Schirm des Höchsten”, zu unserer sicheren Stätte „unter dem Schatten des Allmächtigen”.
Weißt du nicht? hast du nicht gehört? Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt; sein Verstand ist unausforschlich. Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. Die Knaben werden müde und matt, und die Jünglinge fallen; aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, daß sie auffahren mit Flügeln wie Adler, daß sie laufen und nicht matt werden, daß sie wandeln und nicht müde werden.—Jesaja 40:28–31.