Begierig erwartet eine bekümmerte, hungernde Welt das Wort des Verständnisses; sie sehnt sich nach der Hilfe barmherziger Liebe. Sollen wir wie der Priester und der Levit auf der andern Seite vorübergehen und uns nicht um das stumme Bitten kümmern? Oder sollen wir, Vorurteil und Ehrgeiz vergessend, am Wegesrand haltmachen und dem Müden und Leidtragenden helfen? Wir, die wir uns zur Christlichen Wissenschaft bekennen, haben keine andere Wahl als das Gebot unseres geliebten Meisters, „daß ihr euch untereinander liebet”, zu halten, da wir wohl wissen, daß ohne diese Liebe der Buchstabe unserer Religion nur zum leeren Gespött wird.
Nichts entschuldigt uns, wenn wir den Geist der Christlichen Wissenschaft außer Acht lassen,— diese herrliche Erscheinung des „Friedens auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen”, dieses Allheilmittel für jede Krankheit, dessen Herz und Seele die Liebe ist. Vielleicht läßt uns die Eile, mit der wir den Abstand zwischen den alten sterblichen Annahmen und der vollständigen Vergeistigung des Denkens zu überbrücken suchen, die demütigeren Schritte des dazwischenliegenden Wachstums vernachlässigen, wodurch wir der freundlichen gegenseitigen Annäherung verlustig gehen. Aber nie brauchen wir uns so in den Buchstaben zu vertiefen oder wegen des geistigen Fortschritts so ungeduldig zu sein, daß wir unsern Bruder in seiner menschlichen Not nicht beachten oder ihn mit kalten Ansichten abfertigen. Keiner von uns ist so weit vorgeschritten, daß er sich ohne die zärtlichen Bekundungen der christlichen Liebe im täglichen Leben von seiner besten Seite zeigen kann. Und wenn wir als Christliche Wissenschafter dieser Ermutigung und Liebe bedürfen, wieviel mehr bedarf ihrer dann unser Bruder, der vielleicht nur schwach, wenn überhaupt, den allumfassenden Christus, die allumfassende Wahrheit, sieht!
Unsere Liebe zu Gott steht im Verhältnis zu unserer Liebe zum Menschen, und diese Liebe wird nur dann erkannt, wenn wir geben und dienen. Wir brauchen nicht auf den Heerstraßen und Nebenwegen zu suchen. Fließt unser Herz von Dankbarkeit und Liebe zu Gott über, so bietet sich uns Gelegenheit, jeden Augenblick von unserer göttlichen Eingebung und Erkenntnis zu geben. Gerade vor unserer eigenen Tür stehen Männer und Frauen, denen die seelischen Diebe materiellen Denkens Hoffnung und Mut geraubt haben. Ihr Herz sehnt sich nach Befreiung, aber sie wissen nicht, wohin sie sich wenden sollen. Was für eine glorreiche Gelegenheit bietet sich uns, solche Menschen mit dem Kelch christlicher Liebe zu erquicken und wiederaufzurichten! Wie gern, wie bereitwillig sollten wir ihn darbieten! Denn haben wir nicht vom Sinnenzeugnis wegund auf Gott, der die unendliche Liebe ist, hinsehen gelernt? Die Erkenntnis, daß der Mensch zu Seinem Bild und Gleichnis geschaffen ist, muß die heilende Wahrheit ans Licht bringen, und wir wissen, daß der Mensch wert ist, geliebt zu werden, weil er die Widerspiegelung der Liebe ist. Laßt uns bedenken, was dieses mitfühlende Verständnis und diese innige Erwiderung bedeuten muß für diejenigen, die an den Trebern der Materialität verhungern! Können wir es uns leisten, vorzuenthalten? Wenn wir es aber tun, geschieht es dann nicht aus dem Grunde, weil wir der anmaßenden Einflüsterung nachgegeben haben, daß das Lieben ein Mittel sei, um für uns selber etwas zu erlangen? Dann laßt uns in Ruhe vernünftig miteinander reden! Der Samariter dachte nicht an Belohnung, als er gab; nur die Freude, einem andern zu dienen, begehrte er, und im Dienen gab er ein volles, überfließendes Maß. Was für größeren Lohn hätte es geben können als die tiefe Freude und den geistigen Frieden, den diese barmherzige Wohltätigkeit ihm bereitet haben muß?
Unsern Bruder recht kennen, kann nur heißen, daß wir ihn lieben; und ihn lieben, heißt ihm die Christliche Wissenschaft so darbieten, daß er sie verstehen kann. Es kann nur ein freundliches Wort, ein ermutigender Gedanke, eine einfache Handlung der Höflichkeit oder ein freundliches Lächeln sein. Doch sei es, was es wolle, wir haben es und können es geben. Denn hat uns nicht Gott alle Seine köstlichen Gaben verliehen? Und was für einen Beweis haben wir, daß wir diese Gaben annehmen, als den, daß wir Gebrauch davon machen,— nicht nur für uns allein, sondern wieviel freigebiger und reichlicher für andere?
Wir brauchen bei allen unseren Wünschen, den Menschen zu dienen, nur auf Gott zu vertrauen, und Er führt uns Wege der Hilfeleistung. Er zeigt uns, wie wir die Verlassenen und Leidtragenden trösten können. Er leitet uns weise bei der sanften Zurechtweisung, die den Widerspenstigen beruhigt. Er läßt unser Herz sich danach sehnen, die Freundlosen liebreich willkommen zu heißen. Er, „der Herr, Herr hat mir eine gelehrte Zunge gegeben, daß ich wisse mit dem Müden zu rechter Zeit zu reden”.
Es gibt im täglichen Leben nie einen Augenblick, wo wir nicht durch das selbstlose Handeln, die mutige Ehrlichkeit und die einfache Güte des Christenherzens jene christusähnliche Liebe ausdrücken können, die von allumfassender Herzenswärme erglüht. Was macht es, wenn manche zu stolz, manche zu schüchtern sind, um zu bitten, manche zu argwöhnisch, andere sogar zu undankbar sind, um zu empfangen! Dies braucht unser Geben nicht zu lähmen. Wenn Gott unser Lieben begeistert, gibt es nichts zu fürchten. Wie gut doch unsere liebe Führerin Mrs. Eddy dies wußte! Denn oft schien ihr eigenes Lieben vergeblich. Trotzdem bewies sie die Wahrheit dessen, was sie in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zu Heiligen Schrift” (S. 57) sagt: „Menschliche Herzenswärme wird nicht vergebens ausgeströmt, selbst wenn sie keine Erwiderung findet. Liebe bereichert die menschliche Natur, erweitert, reinigt und erhebt sie”.
Wenn wir unsere Liebe dem Vater-Mutter anvertrauen, wird sie von sinnlicher Begierde gereinigt, von Selbstsucht befreit. Dann erfreuen wir uns jeder Gelegenheit, einem andern zu dienen; denn Gott hat uns etwas Heiliges, Geheiligtes, gegeben, das wir mit anderen teilen sollen, eine Liebe, die so barmherzig ist, daß sie die Fehler sogar ihrer Feinde nicht bloßlegen würde, eine Liebe, die bei ihrer edlen Gerechtigkeit keine Parteilichkeit kennt, eine Liebe, die so zärtlich ist, daß sie alle Menschen unter der Obhut ihrer beschützenden Fittiche umschließt,— wahrlich, eine Liebe, die die Kundwerdung Gottes selbst ist, wie Whittier singt:
„O, Mensch, ans Herz nimm freudig deinen Bruder;
Denn Frieden erntet nur, wer Liebe sät,
Wir ehren Gott, wenn wir den Nächsten lieben,
Und jede gute Tat ist ein Gebet.
Drum folget eherbietig Jesu Beispiel!
Wenn Gutes tun uns über alles geht,
Dann wird die Welt ein heil'ger Gottestempel,
Und jedes Leben wird zum Dankgebet”.
