Es ist Zeit, zu lieben! Dieser mit feierlichem, ernstem Nachdruck gesprochene Satz erklingt wie ein Angelus in der Erinnerung. Als während der finsteren Kriegszeit Freunde sich inmitten des Widerstreits erregter menschlicher Meinungen entzweiten, und es oft schien, als ob des Menschen Feinde in der Tat diejenigen des eigenen Haushalts seien, als infolge der starken Erschütterung der materiellen Grundlagen des menschlichen Vertrauens Verdacht herrschte und ungerechte Anklage reichlich geäußert wurde, waren diese göttlich eingegebenen Worte für ein beladenes Herz Zurechtweisung und Trost und eine Aufforderung zum Gebet. In „No and Yes” (Nein und Ja, S. 1) schreibt unsere geliebte Führerin Mrs. Eddy: „Die Menschen sind, wenn sie von einer neuen Idee ergriffen werden, zuweilen ungeduldig; und wenn die öffentliche Meinung erregt ist, lassen sie sich leicht vom Strom der Gefühle fortreißen. Sie sollten sich dann zeitweilig vom Tumult abwenden, um die wahre Idee in der Stille zu pflegen und ruhevoll ihre Tugenden zu betätigen”. Mit dieser Ermahnung stimmen ihre Worte in „Miscellaneous Writings” (S. 238) überein: „Laßt unser Leben die rechte Antwort auf folgende Fragen geben, und es hat schon einen Segen: Hast du das Selbst aufgegeben? Bist du treu? Liebst du?”
Es ist Zeit, zu lieben! Nicht Zeit, zu tadeln und lieblos zu urteilen und sich mißtrauisch von denen fernzuhalten, die man einst Freunde nannte, nicht Zeit, diejenigen zu richten, deren Irrtum sie, sagen wir, in Trübsal gebracht hat! Es ist vielleicht zu früh, das Unkraut vom Weizen zu sichten. Unsere leidenschaftliche Überzeugung von heute kann vielleicht nicht über den morgigen Tagesanbruch hinaus anhalten. Was macht uns geeignet, die Lage richtig zu durchschauen, den Fehler mit Mut und Liebe zu rügen, den Irrtum freundlich und wirksam zu berichtigen—sofern es überhaupt unsere Aufgabe ist, dies alles zu tun—, was macht uns geeignet, in dieser Weise „ein rechtes Gericht zu richten”, wenn wir uns nicht zuerst Zeit nehmen, auf den starken Anspruch unseres eigenen Willens zu verzichten und auf die göttliche Liebe zu warten, daß sie uns mit Liebe erfülle? Wenn wir genug geliebt haben, um den Tumult unserer eigenen Gedanken zum Schweigen zu bringen anstatt davonzueilen, um andere in Ordnung zu bringen, werden wir wohl eine weisere, lieblichere Art finden, wie sie in „No and Yes” (S. 8) angedeutet ist: „Segnend und hoffend laß den Unverständigen ruhig seiner Wege gehen!” Nicht mit stillschweigender Verurteilung, nicht mit bloß unterdrücktem lieblosem Tadel, sondern „segnend und hoffend”! Erfordert dies nicht Liebe? Wir brauchen nicht zu fürchten, daß es uns an sittlichem Mut fehlen werde, wenn wir die Aufgabe mit Gott allein in Liebe ausgearbeitet haben; denn sittlicher Mut ist ein wesentlicher Bestandteil der Widerspiegelung der vollkommenen Liebe, und Er rüstet uns mit dem ganzen Mut aus, dessen wir bedürfen. Ist es unsere Aufgabe zurechtzuweisen, so werden wir das harmonische Zusammentreffen der Gelegenheit und der Weisheit, es nur unter Gottes Führung zu tun, finden. Eine von selbstloser Liebe ausgehende Zurechtweisung hat tausendmal mehr Wert und Kraft als ein übereilter liebloser Tadel, der vielleicht aus Unwissenheit, Vorurteil, Groll oder Selbstgerechtigkeit hervorgeht.
Dieselben aufrührerischen Gedanken der fleischlichen Gesinnung, die den Krieg verursachten—dieselben in der Art, wenn auch nicht der Anzahl nach—sind wohl in jeder Lage, die einen Widerstreit menschlicher Meinungen hervorruft, gegenwärtig, sei es zu Hause, in Gemeindeangelegenheiten, in der Durchführung der Kirchenregierung, in der Gemeindeoder in der Volkspolitik. O, wie schnell würde der aufgeregte Lärm widerstreitender Meinungen beruhigt werden, wie sicher und gelassen würde Zusammenarbeit den Wettbewerb verdrängen, wie bald würden wir die friedvolle Gegenwart des einen großen führenden Gemüts fühlen, dessen einziger Zweck es ist, alle Menschen in gleicher Weise zu segnen, wenn wir gerade hier und jetzt eingedenk wären, daß es Zeit ist, zu lieben—Zeit, einander näherzutreten, Zeit, bereitzustehen, einander zu helfen, Zeit, geduldig zuzuhören, genügend zu erwägen—Zeit, vielleicht viel goldenes Stillschweigen zu beobachten, Zeit, durch stilles Denken darauf zu bestehen, daß keine persönliche Ansicht zwischen uns und unseren Nächsten treten soll, keine persönliche Ansicht, die das göttliche Bild trübt, das wir in uns bekunden und in anderen wahrnehmen sollten!
Es ist immer Zeit, zu lieben! Wie oft kehren diese Worte ermahnend und segnend wieder! Sie kommen in Zeiten schwieriger Ratlosigkeit; doch wir wissen, daß der Irrtum keine Entschließungen erzwingen kann. Denn wenn wir uns Zeit nehmen, zu lieben, nehmen wir uns Zeit, auf Gott zu warten, und wir werden bei unseren Entscheidungen recht geführt. Während wir auf das Einhalten einer Verabredung oder auf einen Straßenbahnwagen, einen Zug, einen Dampfer warten, wird unsere Ungeduld beruhigt; denn keine Zeit, die mit Lieben zugebracht wird, kann vergeudet sein. Manchmal macht einen die Annahme einer Verletzung oder einer Krankheit vorübergehend unfähig, und während man darauf wartet, daß die Heilung erfolge, ist man durch den Gedanken an Verantwortung oder Anhäufung von Arbeit im Geschäft oder zu Hause beunruhigt. Dann kommt wohl wie ein Engelbote mit Heil unter seinen Flügeln der Gedanke, daß es Zeit sei, zu lieben, in unser Bewußtsein; denn nichts beschleunigt die Heilung so sehr wie Liebe. Behutsam und sorgfältig die Gewohnheit liebevollen Denkens pflegen in Augenblicken, die sonst mit Sorge oder Leichtfertigkeit vergeudet würden, heißt unermeßlich Gutes gewinnen und geben.
Selbstprüfung unserer gegenwärtigen Betätigung der Liebe auf jede nützliche Art ist ein Teil dieser Pflege. Bin ich zu Hause gütig, höflich, mitfühlend gegen diejenigen, mit denen ich am meisten zusammen bin, oder habe ich ein Benehmen fürs Haus und ein anderes für die Gesellschaft? Der Apostel Petrus erinnert uns daran, daß wir „Miterben der Gnade des Lebens” sind, und fordert uns auf, „brüderlich, barmherzig, freundlich” zu sein. In welchem Maße betätige ich diese lieblichen Gefälligkeiten des täglichen Lebens? Klage ich, daß mir die Gewohnheiten der Leute auf die Nerven gehen und mich erregen? Entschuldige ich mein kurzes, gleichgültiges, wortkarges Benehmen damit, daß ich temperamentvoll sei? Dieses Wort wird oft gebraucht, um eine Menge kleiner erbärmlicher, selbstischer Sünden zu verbergen, die wir uns schämen würden, zuzugeben, wenn sie aufgedeckt würden. Rechtfertige ich mich dadurch, daß ich die geringeren Annehmlichkeiten außer acht lasse, weil ich von großen und ernsten Aufgaben in Anspruch genommen bin? Wie sollen aber diese ohne Liebe gelöst werden? Bin ich zu sehr niedergedrückt durch etwas, was mich gestern bekümmerte, um einen von Herzen kommenden „guten Morgen” zu geben, zu müde für einen freundlichen Gruß beim Nachhausekommen am Abend? Habe ich vielmehr nicht vergessen, daß es Zeit ist, zu lieben? Muß das Gleichnis Gottes, da Er die Liebe ist, nicht liebreich, liebenswert, lieblich sein und geliebt werden? Bleibt da noch etwas übrig, wodurch man gesegnet werden oder womit man segnen könnte? Ja, es ist durchaus möglich, daß diese unaussprechliche Schönheit und Vollkommenheit der Liebe in uns hier und jetzt scheine. Bedenkt doch dies!
Vielleicht tritt die Versuchung der Entmutigung an uns heran und flüstert uns ein, daß, solange es nicht viel mehr Schüler der Christlichen Wissenschaft gebe, es nicht möglich sei, Zustände, die die Meinungen vieler Menschen betreffen, auf diese vorbildliche Art auszuarbeiten. Würde dies nicht wiederum heißen, die Fähigkeit Gottes, einen Tisch in der Wüste zu bereiten, bezweifeln? Sollen uns unsere kleinen elenden, hindernden Zweifel und Befürchtungen die Wunder der göttlichen Liebe, die in dieser erweckenden Zeit allen Menschen erscheinen, noch länger verborgen halten? Oder sollen wir unsere ängstlichen, begrenzten, uns wichtig dünkenden Anstrengungen, das Zeitalter des Weltfriedens einzuleiten, aufgeben und, die materiellen Denkweisen eine Weile verlassend, einfach lieben? Was für eine Zuflucht, welcher Friede! Es ist in der Tat der Weg des Entrinnens!
Das Weltgetümmel fern verhallt,
Der laute Straßenlärm
Versinkt in dumpf Geheul.
Der Aufruhr der trostlosen Zeit
Erstirbt in schwachem Gemurmel,
Dieweil die Ewigkeit wartet und wacht.
Es ist Zeit, zu lieben!
Die Sonne soll nicht mehr des Tages dir scheinen, und der Glanz des Mondes soll dir nicht leuchten; sondern der Herr wird dein ewiges Licht und dein Gott wird dein Preis sein. Deine Sonne wird nicht mehr untergehen noch dein Mond den Schein verlieren; denn der Herr wird dein ewiges Licht sein, und die Tage deines Leides sollen ein Ende haben.—Jesaja 60:19, 20.
