An einem Frühlingsmorgen, einem solch vollkommenen Frühlingsmorgen, wie ihn Browning schilderte, als er schrieb:
Gott ist in seinem Himmel —
Alles geht gut in der Welt!
vergnügten sich auf einem benachbarten Rasenplatze drei Rotkehlchen. Gerade ihre Einmütigkeit verlieh dem Bilde einen unerklärbaren Frieden und eine erweiterte Erkenntnis der Allgegenwart des Guten. Doch plötzlich hüpfte eines der drei Vöglein versehentlich auf den Sims eines Kellerfensters. Als es sich dort sorglos umsah, wurde seine Aufmerksamkeit auf seinen eigenen schwachen Schatten auf der mit Spinngeweben bedeckten, verstaubten Glasscheibe gelenkt. Sofort war es von Neugierde und Staunen erfüllt, und starrend stand es still; dann flatterte es, vom Schatten dicht verfolgt, auf dem Sims hastig hin und her. Dieser Vorgang dauerte mit zunehmender Heftigkeit mehrere Minuten. Das kleine Rotkehlchen schlug Schnabel und Flügel gegen die Glasscheibe und verwandelte sich schnell in einen mit Staub und Sand beschmutzten, tollen Kämpfer. Die Zeit verstrich, es wurde Mittag, und das bestrickte Rotkehlchen, dessen Blick sich nun auf einen für leibhaftig und wirklich gehaltenen Widersacher seiner eigenen Schöpfung heftete, hielt sich hartnäckig in der Fensternische auf und verfolgte mit unablässiger Wut — einen Schatten. Der Kampf dauerte mit wenigen Unterbrechungen den ganzen Tag hindurch; aber beim Sonnenuntergang kam ein erschöpftes, zitterndes und verzagtes Rotkehlchen von dem Sims ins Freie hervor.
Wie leicht läßt sich doch von der Höhe menschlichen Wissens herab über die Einfältigkeit des Vogels urteilen! Trifft es aber nicht zu, daß am Abend jedes Tages mancher bekümmerte und sich selber bemitleidende Sterbliche vergebens Frieden und Freiheit von erbitternden Gemütsbewegungen sucht, nachdem er seine langen, mit Sonnenschein erfüllten, ihm von Gott gespendeten Stunden im Kampfe mit einem von ihm selber heraufbeschworenen Feinde zugebracht hat?
Dieser Feind ist vielleicht nichts Bedeutenderes als eine von einem unserer Lieben geäußerte, im Gedächtnis festgehaltene schroffe Bemerkung oder Redensart, die vielleicht sofort, nachdem sie geäußert war, bedauert wurde; wird sie aber zu ernst aufgefaßt und für unverzeihlich gehalten, so hält sie womöglich unser Denken wie in einem Schraubstock fest. Wiederum kann der Feind der Glaube sein, man werde zu Hause nicht mehr genügend geschätzt, man sei für das Wohlergehen der Angehörigen nun überflüssig, oder man werde schon lange vernachlässigt. Ein mit diesen vom Irrtum geprägten Einflüsterungen belastetes Denken kann ein Feind von großem Ausmaße werden. Unsere verehrte Führerin schreibt in ihrem beachtenswerten Aufsatze mit der Überschrift „Liebet eure Feinde” (Miscellaneous Writings, S. 10): „Selbst in der Annahme hast du nur einen [Feind] (doch nicht in der Wirklichkeit), und dieser eine Feind bist du selber — dein falscher Glaube, daß du Feinde habest, daß das Böse wirklich sei, daß in der Wissenschaft etwas außer dem Guten bestehe”.
Wie hat doch der falsche Glaube an Parteilichkeit und an unlauteres oder ungerechtes Unterscheiden bei der Teilung von Eigentum allzuoft zu einer dauernden Entfremdung zwischen Verwandten geführt, ja sogar ein bitteres Gefühl der Feindschaft gegen Vater oder Mutter verursacht! Gewiß könnte keine andere Lage größeres Leid nach sich ziehen; doch der Gekränkte betrachtet seinen Feind so lang, bis er vielköpfig wird, und seine ihm von Gott verliehenen Tage verstreichen in Jahre unerfüllter goldener Gelegenheiten, unausgeführter Aufgaben, vergeudeter Stunden, wartender Freuden und hinterlassen nur einen Haufen dürrer Hülsen der Krittelei und des Vorurteils im Verein mit einer törichten Gleichgültigkeit gegen alles, was recht und gut ist.
Christus Jesus, der Vielgeliebte, verstand gut die unumgängliche Notwendigkeit des Opferns der persönlichen Sinne, als er an seine Jünger folgende bündige Erklärung richtete: „Darum, wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und wirst allda eingedenk, daß dein Bruder etwas wider dich habe, so laß allda vor dem Altar deine Gabe und gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und alsdann komm und opfre deine Gabe”.
Wie oft tritt ein lieber Freund aus einem Verein, aus einer Loge oder sogar aus einer Kirchenarbeitsgemeinschaft aus und leidet seelisch und leiblich, weil er glaubt, er sei eines nach seiner Meinung ihm rechtmäßig zustehenden Amtes zu Unrecht beraubt worden! In den Stunden, die ihm verliehen sind, um Dankbarkeit für Gottes Macht und Kraft zum Ausdruck zu bringen, um sich zu freuen, daß jedes Kind Gottes von Seiner Allheit nehmen kann, soviel es will, wirft ihn der Feind, der Groll, ja sogar Wiedervergeltung heißt, hin und her, bis auch er schließlich erschöpft und müde hervortritt. Unsere große Führerin in der Christlichen Wissenschaft schreibt in dem bereits erwähnten Aufsatze in „Miscellaneous Writings” (S. 12) auch folgendes: „Ist dir großes Unrecht geschehen, so vergib und vergiß: Gott wird dieses Unrecht sühnen und den, der dir zu schaden trachtete, schwerer strafen, als du es könntest. Vergilt nie Böses mit Bösem, und vor allem bilde dir nicht ein, es sei dir Unrecht geschehen, wenn es nicht der Fall ist”.
In dem Maße, wie die Sterblichen durch ernstliches Lernen die wahre Bedeutung der Worte und Werke des Meisters und einen Einblick in die göttlich eingegebenen Lehren der Christlichen Wissenschaft gewinnen, werden verletzte Gefühle keine Stätte haben, werden keine Mißverständnisse mehr vorkommen; denn alle Menschen werden über jeden Zweifel hinaus wissen, daß keine Person, kein Zustand, keine Anhäufung von Umständen, keine ungerechte Teilung, keine sogenannte menschliche Kraft ihnen Gottes göttliche Gaben vorenthalten oder Seinen vollkommenen göttlichen Plan für alle Seine Kinder stören kann.
Durch einen erweiterten Sinn von selbstloser Liebe, durch größere Dankbarkeit für tägliche Wohltaten, durch ein umfassenderes Verständnis vom Dienen und eine wahrere Auslegung des Lebens haben gedankenlose Bemerkungen, vermutete Spöttelei, unbeabsichtigte Nichtachtung, scheinbare Vernachlässigung, unbillige Behandlung keine Kraft, zu verdrießen; vor allem werden sie einem seinen Mitmenschen nicht als Feind darstellen können. Dies ist sicher der Tag, an dem wir uns von neuem weihen sollten, im Sonnenschein der Gegenwart Gottes zu leben, zu lieben, zu arbeiten und zu spielen, indem wir uns standhaft weigern, uns in die vom Irrtum geschaffenen verstaubten und beschmutzten Ecken hineinziehen zu lassen, der Tag, an dem wir uns hier und jetzt mit dem versöhnen sollten, der, wenn auch unbewußt, die Freundlichkeit, die wir ihm vielleicht vorenthalten, sehnsüchtig erwartet.