Eines der vielen Wörter, auf die die Christliche Wissenschaft ein neues und klareres Licht wirft, ist das Wort „Unschuld”. In Websters Wörterbuch ist dieses Wort erklärt als „Zustand oder Eigenschaft des Unschuldigseins; ... Freisein von Schuld”. „Harmlosigkeit” ist als sinnverwandter Ausdruck angegeben. Dem Christlichen Wissenschafter ist es klar, daß er, um unschuldig zu werden, um von dem, was schädlich und verderblich ist, frei und daher harmlos zu sein, die Unwirklichkeit des Bösen erkennen und aufhören muß, Böses zu tun. Wer das Böse als wirklich und als Teil seiner selbst oder anderer ansieht, kann nicht harmlos sein; denn in dem Maße, wie für ihn das Böse eine Wirklichkeit ist, ist er nicht frei von dem, was schädlich und verderblich ist.
Als Daniel in die Löwengrube geworfen wurde, half ihm beim Ausarbeiten seiner Aufgabe zum mindesten die Tatsache, daß er unschuldig war, so daß er zum König Darius sagen konnte: „So habe ich auch wider dich, Herr König, nichts getan”. Es gibt in der Tat keinen größeren Schutz als die Fähigkeit, unter jeder Bedingung und unter allen Umständen zu erkennen, daß, da Gott alles gemacht hat, was gemacht ist, und es für „sehr gut” erklärt hat, das Böse nie geschaffen worden ist und daher in Wirklichkeit nicht besteht. Die Erkenntnis der Allmacht und der Allgegenwart Gottes, des Guten, und die Erkenntnis, daß der Mensch der geliebte Sohn des Vaters ist, läßt das erhaltende und schützende Gesetz Gottes augenblicklich zu unseren Gunsten wirken. Und was könnten wir mehr erbitten oder wünschen?
Unschuld ist nicht mit Unwissenheit zu verwechseln. Es mag Menschen geben, die mit gewissen Erscheinungsformen des sogenannten Bösen nie in Berührung gekommen sind, die nicht einmal wissen, daß es so etwas gibt; glauben sie aber überhaupt an die Wirklichkeit des Bösen und behaften sie in Gedanken ihre menschen damit, so sind sie keineswegs unschuldig oder harmlos. Ja, sie geben sich in großem Maße selber diesem falschen, bestrickenden Glauben preis; denn genau in dem Maße, wie man aus dem Bösen eine Wirklichkeit macht, unterwirft man sich seiner Scheingewalt. In diesem Zusammenhange ist es gut zu wissen, daß wir in dem Augenblick, wo wir unsern Bruder mit dem Bösen behaften — wo wir ihm böse Beweggründe, Ansprüche und Neigungen zuschreiben—, das Böse mit etwas ausrüsten, was ihm allein Scheinmacht verleihen kann, nämlich mit der Stütze der Persönlichkeit. Auf Seite 71 in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” schreibt Mrs. Eddy: „Das Böse hat keine Wirklichkeit. Es ist weder Person, Ort noch Ding, sondern einfach eine Annahme, eine Illusion des materiellen Sinnes”. Könnte das Böse überhaupt kürzer und bündiger dadurch so vollständig erledigt werden, daß es als der falsche Anspruch gezeigt wird, der er ist? Solange wir also das Böse als unpersönlich erkennen, kann es, soweit wir in Betracht kommen, keinen Stachel haben. Wir müssen uns aber vollständig darüber klar sein, daß der falsche, fleischliche Sinn offenkundig danach trachtet, Christliche Wissenschafter zu veranlassen, aus dem Bösen dadurch eine Wirklichkeit zu machen, daß sie es persönlich machen und ihm so Fortdauer verschaffen.
Man kann sich von dem Glauben an das Böse unmöglich frei machen, solange man es in Gedanken anderen Menschen zuschreibt. Wer einem andern Fesseln schmiedet, schmiedet sie ganz gewiß sich selber. „Mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden”, sagte Jesus. Unsere Sicherheit besteht darin, daß wir das Böse, in welcher Verkleidung es auch auftreten mag, als bloße Lüge über das Gute erkennen. Welche Freiheit, welche Sicherheit hätten wir, wenn wir immer eine solche Haltung des Denkens einnähmen, wenn wir uns immer weigerten, das Böse weder als Person noch als Ort noch als Ding anzunehmen, wenn unser Bewußtsein immer von der Unschuld durchdrungen wäre, die nur das Gute kennt! Jede Erscheinung von Unvollkommenheit, die sich unserer Beachtung scheinbar aufdrängen möchte, würde bei solchem Verhalten ganz von selber beseitigt werden.
Eine Schülerin der Christlichen Wissenschaft befand sich einst in einer scheinbar sehr unerquicklichen und verwickelten Lage. Monatelang arbeitete sie ernstlich und hingebungsvoll an der Aufgabe, jedoch scheinbar erfolglos. Ja, die Lage wurde schlimmer statt besser. Als dann eines Tages die Zustände fast unerträglich schienen, zog sie sich, mit einem aufgeregten Gefühl der Bedrängnis kämpfend, in ihr Zimmer zurück. So verwickelt schien dem menschlichen Sinn die Lage, und so vergeblich waren ihre Anstrengungen, sie zu bessern, gewesen, daß sie kaum wußte, wie sie an der Aufgabe noch weiter arbeiten sollte. Etwas konnte sie jedoch tun, nämlich ruhig auf Gott warten und die sanfte Stimme der göttlichen Liebe zu Wort kommen lassen. Als sie dies tat, kamen ihr die bereits angeführten Worte aus Wissenschaft und Gesundheit: „Das Böse hat keine Wirklichkeit. Es ist weder Person, Ort noch Ding” in den Sinn. Und unmittelbar darauf erfüllte sie ein Gefühl der Allgegenwart des Guten. O durch welches Gefühl der Ruhe, des Friedens und der Heilung das Gefühl der Ermüdung und der Bedrängnis der letzten paar Wochen verdrängt wurde! Sie hatte aufgehört, das Böse persönlich zu machen. Sie hatte etwas von jener Unschuld erlangt, die nur das Gute sieht und anerkennt. Sie war in das Himmelreich weiter eingedrungen. Sie sah sich in dem Zimmer um, worin sie sich befand, und fragte sich, ob es denn dasselbe sein könne, in das sie erst kurz vorher eingetreten war. Alles schien ihr verändert, von einer Schönheit umgeben, die vorher nicht vorhanden zu sein schien; denn jetzt schaute sie in die Wirklichkeit durch die Linse der Liebe, nicht durch die Linse des Glaubens an das Böse.
An der Aufgabe wurde nicht weiter gearbeitet, sondern nur an jener Erkenntnis der Allgegenwart des Guten unerschütterlich festgehalten. Auch wurde kein Finger gerührt, um die Lage auf menschliche Art zu ändern. Die Ereignisse verliefen jedoch so schnell, daß man sie fast nicht verfolgen konnte. Innerhalb weniger Wochen hatten sich die scheinbar verwickelten und widerwärtigen Zustände vollständig geändert, und Friede, Liebe und Wohlergehen herrschten. Diese Lehre ist unvergeßlich geblieben, und mehr als einmal ist seitdem ein ähnlicher Sieg dadurch errungen worden, daß man sich einfach weigerte, das Böse anzuerkennen und persönlich zu machen, und daß man an der Wahrheit der Allgegenwart des Guten festhielt.
Es fördert unsern Fortschritt in der Christlichen Wissenschaft außerordentlich, wenn wir erkennen, daß nur unser Eingehen im Denken auf den falschen Anspruch, daß es eine von Gott getrennte Macht gebe, uns Schmerzen, Leid oder Verdruß verursacht. Christus Jesus bezeichnete diesen falschen Anspruch als „den Fürsten dieser Welt”, und der Apostel Paulus nannte ihn „den Fürsten, der in der Luft herrscht”. In des Meisters Laufbahn kam die Zeit, wo er sagen konnte, daß der Fürst dieser Welt nichts an ihm habe. Damals war er in der Tat „das Lamm Gottes, welches der Welt Sünde trägt”. Von der Seligkeit solchen Bewußtseins erfüllt, betete er, daß diejenigen, die den Christus wahrnehmen, auch diese Reinheit des Denkens erreichen möchten. Hätte er für diejenigen, die ihn anerkannten, einen größeren Segen erflehen können? Könnte Liebe den Geliebten mehr wünschen?
Auf Seite 590 in Wissenschaft und Gesundheit erklärt Mrs. Eddy den Ausdruck „Lamm Gottes” als „die geistige Idee der Liebe; Selbstaufopferung; Unschuld und Reinheit; Opfer”. Was könnte es in einem aus solchen Eigenschaften bestehenden Wesen geben, das die sogenannten tierischen Neigungen angreifen oder zerstören könnten? Sicher konnte Christus Jesus nur deshalb, weil er das „Lamm Gottes” war, die unpersönliche Art des Bösen so klar sehen, daß er sogar am Kreuze beten konnte: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!” Hätte er nicht so beten können, wäre er dann wohl je siegreich über den Tod und das Grab aus der Gruft hervorgegangen?
Die kindliche Freude und Freiheit, die eine solche Unschuld wie diejenige des Meisters begleiten müssen, ist erstrebenswert. Sie führt zu jener Seelenruhe, die die unvermeidliche Folge des Anerkennens und Annehmens nur des Guten ist. Auf keine andere Art können wir vollkommen werden, gleichwie der „Vater im Himmel vollkommen ist”; denn nur wenn wir sehen, wie der Vater sieht, und erkennen, wie der Vater erkennt, verlieren wir unsern falschen Sinn vom Bösen und nähern uns der Erfüllung der Verheißung: „Du wirst hinfort das Böse nicht mehr sehen” (engl. Bibel).
