Im Evangelium des Matthäus, des Markus und des Lukas haben wir drei nur in der Vollständigkeit ihrer bestätigenden Einzelheiten voneinander abweichende Darstellungen der schönen und erhebenden Geschichte von dem Weibe, das Jesus durch die Volksmenge nachfolgte, um den Saum seines Kleides zu berühren, und bei der Berührung geheilt wurde.
Es ist eine sehr menschliche Geschichte, nicht unähnlich den Geschichten, die viele Christliche Wissenschafter heute erleben. Dem sterblichen Anscheine nach war hier ein Weib, das zwölf mühselige Jahre lang krank gewesen war, viel Leiden erduldet, viele Ärzte zu Rate gezogen hatte, und deren Zustand trotz sorgfältigster ärztlicher Bemühungen, sie zu heilen, schlimmer statt besser geworden war. Sie zählte zu den vermeintlich „Unheilbaren” jener Zeit. Außerdem waren ihre Mittel und ihre Körperkräfte erschöpft.
Und dann „hörte sie von Jesus”! Wie mußte ihre schwache Hoffnung wieder gestiegen sein, als sie vielleicht von einer Freundin oder einer Nachbarin von den erstaunlichen Heilungen hörte, die dieser bedeutende Mensch, der unter ihnen erschienen war, vollbrachte, zumal sich auch das Gerücht verbreitete, daß der lang ersehnte Messias endlich zu seinem Volk gekommen sei!
Wir alle kennen den Hergang: wie sich dieses Weib voller Glauben sehnsüchtig durch das Volk hindurchdrängte und unterwegs wahrscheinlich immer wieder zu sich selber sagte, daß Stärke und Kraft gegenwärtig seien, wenn sie sich nur damit in Verbindung setzte; wie sie sich bemühte, die Hilfe zu erlangen, deren sie so sehr bedurfte, und wie „sie es alsbald am Leibe fühlte, daß sie von ihrer Plage war gesund geworden”.
Wir lesen weiter, daß Jesus sich bewußt war, was vorgefallen war. Er drehte sich im Gedränge um und fragte, wer dieser Wohltat teilhaftig geworden sei. Unsere Führerin Mary Baker Eddy bemerkt hierzu auf Seite 86 unseres Lehrbuchs „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift”: „Jesus fragte einst:, Wer hat mich angerührt?‘ Da seine Jünger meinten, daß diese Frage allein durch physische Berührung veranlaßt worden sei, antworteten sie:, Das Volk drängt ... dich‘. Jesus wußte, was die anderen nicht wußten, nämlich, daß es nicht die Materie, sondern das sterbliche Gemüt war, dessen Berührung nach Hilfe verlangte”.
Die Erklärung der Jünger ablehnend, blickte der Meister noch einmal umher; aber seine Frage wurde verneint. „Alle leugneten”, lesen wir. An dieser Stelle der Geschichte sind wir vielleicht etwas überrascht. Warum, denken wir, sollte dieses glückliche Weib, das soeben auf so wunderbare Art geheilt worden war, versuchen, sich im Gedränge zu verstecken, und sich weigern, hervorzutreten und den Segen anzuerkennen? Ehe wir jedoch den ersten Stein der Krittelei werfen, laßt uns einen Augenblick innehalten und nachdenken. Verhielt sich dieses Weib nicht genau so wie viele von uns heute? Auch wir schienen (dem falschen, sterblichen Sinne) krank, in Not oder in Gefahr zu sein, wir verlangten nach dem Christus, der Wahrheit; wir trachteten, wie uns Mrs. Eddy auf Seite 142 unseres Lehrbuchs auffordert, nach „dem ungeteilten Gewand, dem ganzen Christus”, und unserer Not wurde abgeholfen. Haben wir es unverzüglich und dankbar anerkannt?
Vernehmen wir nicht in jeder Mittwochabendversammlung in christlich-wissenschaftlichen Kirchen oder Vereinigungen, wenn vom Pulte verkündigt wird, daß die Versammlung eröffnet sei für „Erfahrungen, Zeugnisse und Bemerkungen über die Christliche Wissenschaft” (Kirchenhandbuch, S. 122), wiederum die Frage Christi, der Wahrheit: „Wer hat mich angerührt?” Wer ist mit der Kraft Gottes, des Lebens, der Wahrheit und der Liebe in Berührung gekommen und gesegnet worden? Und wenn wir stumm auf unserem Platze sitzen bleiben, uns in der Menge gut versteckt glauben, und vielleicht darauf warten, daß jemand anders eine Dankeserklärung abgebe, leugnen wir alle dann nicht nochmal?
Kommen wir auf die biblische Geschichte zurück und sehen wir nach dem Grunde, warum das Weib schwieg und sich offenbar nicht getraute, von dem Wunder zu erzählen, das ihr widerfahren war! Es ist nicht schwer, den Grund zu finden. Sie fürchtete sich! Vielleicht fürchtete sie sich davor, daß aller Augen auf sie gerichtet sein würden, daß sie im Volksgedränge auffallen würde, daß sie die Geschichte ihres Leidens, den Grund, warum sie Jesus aufsuchte, und das Wunderbarste von allem, ihre Heilung, nicht zusammenhängend würde erzählen können.
Hat ihre Erfahrung nicht wiederum sehr viel Ähnlichkeit mit unserer eigenen? Ist es nicht Furcht, die uns in Schweigsamkeit, in Verstecken in der Menge hineinbannen möchte und uns zweifeln läßt, daß wir fähig sind, unser Zeugnis abzulegen? Ach, wenn wir doch nur erkennen könnten, daß die Frage: „Wer hat mich angerührt?” nicht bedeutet: Wer kann eine glänzende Rede halten? sondern nur: Wer hat Hilfe gebraucht und hat sie empfangen?, und daß die einzig nötige Antwort die ehrliche Erzählung der Tatsachen ist! Als das Weib mit allen ihren Zweifeln und Befürchtungen schließlich kam und zitternd „ihm die ganze Wahrheit sagte”, hätte da eine Rede eindrucksvoller sein können? Hätte Beredsamkeit das Volk in größeres Staunen versetzen können als die einfache Geschichte, die sie erzählte? So eindrucksvoll war sie, daß sie uns durch alle Zeiten hindurch erhalten blieb. Nur die aus dankbarem Herzen gesprochene Wahrheit ist wirkungsvoll.
Eine Frau, die von den Wohltaten der Christlichen Wissenschaft gehört hatte, begann die Mittwochabendzeugnisversammlungen in einer größeren Stadt zu besuchen und hoffte, daß jemand über die Befreiung von derselben Krankheit, woran sie litt, sprechen werde. Getreulich ging sie zwei Jahre lang in die Versammlungen, ohne das besondere Trostwort zu empfangen, wonach sie hungerte, und dann eines Abends kam es! Eine andere Frau stand auf und sprach über das Überwinden eines ganz ähnlichen Zustandes durch die Christliche Wissenschaft. Die Anfängerin wurde ermutigt, vorwärtszugehen und fortzufahren, sich ernstlicher in die Christliche Wissenschaft zu vertiefen, und auch sie fand Befreiung. Es wäre, als die Frage kam: „Wer hat mich angerührt?”, in der Tat traurig gewesen, wenn sich die Zeugnisablegerin in der Menge versteckt gehalten und auf den falschen Vorwand gehorcht hätte, sie habe eine schwere Zunge, eine fremde Aussprache oder eine Heilung, die zu einfach sei, um jemand wichtig zu erscheinen.
Die biblische Geschichte schließt mit einem Segensspruch. Unsere Führerin schreibt auf Seite 372 in Wissenschaft und Gesundheit: „Eine gerechte Anerkennung der Wahrheit und dessen, was sie für uns getan hat, ist eine wirksame Hilfe”. Jedes Überwinden von Furcht, jedes Aufgeben des Selbst zieht seinen Segen nach sich. Haben wir in dieser Hinsicht aufrichtig unser Bestes getan, so dürfen wir hoffen, daß wir die Liebe werden zu uns sagen hören, wie der Meister vorzeiten zu dem gläubigen Weibe sagte: „Sei getrost. ... Gehe hin mit Frieden!”
