„Und Jesus ging hervor und sah das große Volk; und es jammerte ihn derselben, und er heilte ihre Kranken”. So berichtet Matthäus von dem Erbarmen, das den großen Meister beständig beseelte und ihn bewog, jene Heilungen zu vollbringen, die bewiesen, daß sein Wirken göttlich war. Man kann sich Jesus unmöglich anders denken, als in höchstem Maße von jenem zärtlichen, erbarmenden Wohlwollen erfüllt, das das Auge des Mitgefühls befähigt, die Bedürfnisse der Menschen zu sehen, und das die freundliche Handlung veranlaßt, die der Not abhilft. Während uns des Nazareners Gabe zu heilen mit Bewunderung erfüllt, müssen wir stets jenes sie beständig begleitenden wunderbaren Geistes selbstlosen Erbarmens eingedenk sein.
Jesus erwartete, daß seine Nachfolger erbarmungsvoll seien. In ihrer Botschaft an Die Mutter-Kirche für 1902 (S. 18) schreibt Mrs. Eddy: „Jesus war erbarmungsvoll, wahr, aufrichtig im Zurechtweisen, bereit zu vergeben. Er sagte:, Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan‘”. Wir können den großen Wegweiser mit Worten ehren,— es ist leicht, das zu tun; aber der Prüfstein unserer Wertschätzung dessen, was er durch seine Offenbarung der Vaterschaft Gottes und der Brüderschaft des Menschen für uns getan hat, ist der in seinem Namen den Menschen dargereichte „Becher kalten Wassers”, die zur Hebung der Last von der schwerbeladenen Schulter vollbrachte erbarmungsvolle Tat, die Wiederherstellung der Gesundheit, des Friedens und der Freude der Betrübten auf Erden. Jesu Lehre war außerordentlich zweckdienlich; es ist bedauerlich, daß sie von so vielen als etwas so überwiegend Lehrmäßiges angesehen worden ist.
Wie sich viele Menschen in der Vergangenheit den Lehren Christi Jesu gegenüber auch verhalten haben mögen, darüber kann kein Zweifel bestehen, wie die Christlichen Wissenschafter sie heute ansehen. Die Christliche Wissenschaft hält daran fest, daß die Lehren des Meisters von überaus zweckdienlicher Art sind, daß es das Ziel und das Streben des Christen sein sollte, sie zu beweisen, wo und wann sich immer Gelegenheit dazu bietet. Mit dieser Absicht erläutert sie die Wissenschaft des Lebens, indem sie die Regeln klarmacht, die von allen, die den Beweis erbringen wollen, verstanden und befolgt werden müssen. Auf Seite 115 und 116 des Lehrbuchs „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” entwirft Mrs. Eddy ein Bild von der „wissenschaftlichen Übertragung vom sterblichen Gemüt”, indem sie zeigt, wie sich das menschliche Denken vom „ersten Grad: Verderbtheit”,— dem „Physischen”, durch den „zweiten Grad: Böse Annahmen im Verschwinden begriffen”,— dem „Moralischen”, zu dem „dritten Grad: Verständnis”,— dem „Geistigen”, erhebt. Und unter den moralischen oder sittlichen Eigenschaften erwähnt sie das „Erbarmen”. So weist sie klar darauf hin, daß allen Christen die sittliche Pflicht obliegt, erbarmungsvoll zu sein.
Der Christliche Wissenschafter weiß, wie sehr diese sittliche Eigenschaft in seinem Umgang mit Kranken und Sündern vonnöten ist. Wie schnell sie doch der leidende Kranke fühlt! Wie er sie willkommen heißt, wo sie vorhanden ist, und wie sehr es ihm auffällt, wenn sie fehlt! Auch weiß jeder Ausüber der Christlichen Wissenschaft, daß seine Arbeit unmöglich so wertvoll sein kann, wie sie sein sollte, wenn er mit dieser sittlichen Eigenschaft nicht ausgerüstet ist. Durch sie kommt man in Liebe dem Denken des Hilfebedürftigen näher; durch sie werden sogar die Tore des Himmels — der Harmonie — geöffnet; und durch die offenen Tore tritt die Liebe Gottes ein und vertreibt die Trugvorstellung, nämlich die Krankheit. Wiederholt ist dies in der Erfahrung des erbarmungsvollen Ausübers vorgekommen.
Wie sehr man doch auch des Erbarmens bedarf, wenn es sich um Sünde handelt! Möglicherweise glaubt der Sünder, er sei wie mit Stahlketten an eine besondere Form von Sünde gebunden. Wie sehr tut Erbarmen in solchem Falle not! Das arme Herz ist wahrscheinlich schwer genug, ohne daß noch ein einziger Gedanke oder ein einziges Wort der Verurteilung seiner Last hinzugefügt wird. Und dies ist möglich, ohne daß man die Sünde auch nur im geringsten als weniger abstoßend ansieht, als sie ist. Überdies ist es nur der erbarmungsvolle Gedanke, der die Vollkommenheit des Menschen erkennen kann; und nur die Erkenntnis der Vollkommenheit des Menschen kann den Glauben an die Wirklichkeit des Bösen und das Verlangen zu sündigen zerstören. Lassen wir uns nicht durch falsche Gottesgelehrtheit irreführen! Gott kennt das Böse nicht; die Sünde ist Gott unbekannt. In dem Maße, wie der Christliche Wissenschafter Gott als das unendlich Gute verstehen lernt, gewinnt er den Sieg über den fleischlichen Sinn mit den ihn begleitenden sündhaften Annahmen.
Wie erbarmungsvoll unsere geliebte Führerin doch war! Oft finden wir in ihren Schriften diese göttliche Eigenschaft aus ihrer Feder fließen in dem Bestreben, sogar diejenigen zu segnen, die ihr unrecht taten. Was für ein herrliches Beispiel sie allen ihren Nachfolgern damit gab! Auf Seite 228 in „Miscellaneous Writings” schreibt sie: „Mit erbarmendem Auge sollten wir auf den Augenblickserfolg aller Niederträchtigkeiten, auf wahnsinnigen Ehrgeiz und gemeine Rache blicken”. Und sie fährt mit folgenden weisen Worten fort: „Dies wird uns auch so weit bringen, daß wir eine freundliche, wahre und gerechte Person, die gewissenhaft und über jeden Tadel hinaus ehrlich ist, als das allein brauchbare Gewebe ansehen, aus dem ein für Erde und Himmel passendes Dasein gewoben werden kann”. Diese soeben angeführten beidem Sätze sind es sicher wert, von allen erwogen zu werden, die bestrebt sind, im Umgang mit ihren Mitmenschen erbarmungsvoll — wahrhaft christlich — zu sein.
