Heutzutage hört man viel davon reden, daß man seine Persönlichkeit zum Ausdruck bringen müsse. Manche behaupten, eine der Hauptbedingungen des Erfolgs sei die Heranbildung einer selbstbewußten Persönlichkeit, und eine der Ursachen menschlichen Mißerfolgs liege darin, daß man versäume, sich in dieser Hinsicht zu entwickeln. Eine solche Ansicht beruht auf dem Glauben an ein menschliches Selbst mit einem von Gott getrennten Dasein,— einem Glauben an ein Stoffdasein,— dessen Mittelpunkt das sogenannte menschliche „Ich” ist. Dieselbe Richtung menschlichen Denkens ist geneigt, das geistige Leben als farblos und schal und als ein Leben beständiger Unterdrückung der Persönlichkeit anzusehen.
Jahrtausendelang glaubten die Menschen, die Erde sei der Mittelpunkt des Weltalls. Durch wissenschaftliches Beobachten und Forschen wurde aber schließlich entdeckt, daß die Erde sich um die Sonne dreht, und daß die Sonne der Mittelpunkt der Sonnenwelt ist. Die falsche Annahme änderte zwar nichts an der wahren Beziehung zwischen Erde und Sonne, aber die Welt machte, solange sie sich in Unwissenheit darüber befand, doch nicht den Fortschritt, der von der richtigen Erkenntnis der Tatsache abhing.
Selbstbeherrschung, die auf dem Glauben an ein von Gott getrenntes menschliches Selbst beruht, wird nie die Kranken heilen oder die Werke vollbringen, die unser Meister seine Nachfolger tun hieß. Das Streben, das menschliche Selbst zum Mittelpunkt des Glücks und des Erfolgs zu machen, beruht auf falscher Wertschätzung des Lebens. Eine Zeitlang kann es scheinen, als ob ein solcher Glaube Vertrauen einflöße und bis zu einem gewissen Grade zu Erfolg führe; über kurz oder lang aber zerplatzt die Luftblase bei der Berührung durch Leid oder Krankheit, und dann versagt das vielgepriesene Selbstvertrauen. Früher oder später kommt die Probe, und das auf Selbstüberhebung gegründete Vertrauen bricht unter der Gewalt der Umstände zusammen.
Einen der Berichte, die mit außergewöhnlicher Klarheit das Erlangen wahrer Selbstbeherrschung zeigen, finden wir in der Lebensgeschichte Mose’s. Als ihm geoffenbart wurde, daß Gott ihn ausersehen hatte, die Kinder Israel aus der Knechtschaft Ägyptens in die Freiheit des gelobten Landes zu führen, rief Mose aus: „Wer bin ich, daß ich zu Pharao gehe und führe die Kinder Israel aus Ägypten?” Es ist beachtenswert, daß die Antwort auf diesen Aufschrei menschlicher Ungeeignetheit nicht eine Versicherung menschlicher Fähigkeit sondern eine Offenbarung der Allheit Gottes war. Diese Offenbarung kam zu Mose als die Stimme Gottes, die sagte: „Ich bin, der Ich bin” (engl. Bibel).
Heute legt uns die Christliche Wissenschaft jene wunderbare Erklärung des immer gegenwärtigen Gottes aus, der alles Bewußtsein, alles wirkliche Dasein, das einzig wahre „Ich” in sich schließt, kraft dessen sich Mose zu seinem Lebenswerk anschickte. Weiter sagte die Offenbarung: „Also sollst du zu den Kindern Israel sagen: Ich bin (engl. Bibel) hat mich zu euch gesandt”. So wurde also dieser große Führer der Menschen geheißen, vorwärts zu gehen, nicht im Sinne persönlicher Führerschaft, sondern in der Kraft jener Erkenntnis der Allheit, der Einheit Gottes, die er seinen Leuten mitteilen sollte, damit sie von ihrer Knechtschaft befreit werden könnten. Im Lichte jener Erleuchtung erweiterten sich seine begrenzten Fähigkeiten. Als Mose mit Furcht und Zittern an die notwendigen menschlichen Schritte dachte, rief er wiederum aus: „Ach mein Herr, ich bin je und je nicht wohl beredt gewesen, auch nicht seit der Zeit, da du mit deinem Knecht geredet hast; denn ich habe eine schwere Sprache und eine schwere Zunge”. Die Antwort kam schnell und sicher: „So gehe nun hin: Ich will mit deinem Munde sein und dich lehren, was du sagen sollst”. Diese Verheißung war eine weitere Offenbarung; denn sie gab Mose ein Gefühl der Macht über menschliche Begrenzungen, jener Macht, die nur aus der Erkenntnis der Wirklichkeit des wahren Seins, des „Ich bin, der Ich bin”, hervorgeht.
Mrs. Eddy schreibt in „Miscellaneous Writings” (S. 189): „Die Kenntnis des Lebens, wie es ist, nämlich als Gott, als das ewig Gute, verleiht dem Menschen nicht bloß einen Sinn des Daseins sondern zugleich auch ein Bewußtsein geistiger Kraft, die den Stoff unterwirft und Sünde, Krankheit und Tod zerstört”. Wenn wir beim Erfüllen der auf dieser aufwärts führenden Reise an uns herantretenden Pflichten von Erregung, Furcht und Befangenheit befallen werden, tun wir gut, eine Zeitlang über die Offenbarung nachzudenken, die zu Mose kam und ihm das „Bewußtsein geistiger Kraft” gab. Wenn wir einsehen lernen, daß wir ein Werkzeug zum Vollbringen des Zweckes Gottes sind, werden wir auch wissen, daß uns Gott mit allem zur Erfüllung dieses Zwecks Notwendigen versehen wird. Als Mose um weitere Erleuchtung zur Ausführung seiner Aufgabe betete, kam ihm die Botschaft: „Mein Angesicht soll vorangehen; damit will ich dich leiten”. Die Versicherung des immer gegenwärtigen „Ich bin” bringt die Furcht vor Mißerfolg zum Schweigen und erzeugt die Ruhe und das Gleichgewicht wahrer Selbstbeherrschung.
In einer seiner kurzen Erzählungen spricht Kipling von einem Meisterhandwerker in England, der aus Ehrgeiz seinen Landsleuten seine Geschicklichkeit beweisen wollte, der aber seinen Fehler mit den Worten zugab: „Ich bin nicht hierhergekommen, um Gott zu dienen, wie Ihm ein Handwerker dienen sollte, sondern um meinen Landsleuten zu zeigen, was für ein großer Handwerker ich bin”. So hat mancher Künstler es nicht zu wahrer Größe bringen können, weil er seinen Glauben an seine eigenen Fähigkeiten dem göttlichen Prinzip, das er widerzuspiegeln versuchte, nicht untergeordnet hat. Die großen Führer der Menschen waren solche, die die Ehre Gottes durch sich hindurchscheinen ließen, und die diesen Vorgang nicht durch eine übertriebene Meinung von ihrer eigenen Wichtigkeit hinderten. Eine demütig und aufrichtig gegebene Botschaft spricht mit Macht und heilt die Kranken.
Die Sendung Mose’s bestand darin, den Menschen die Erkenntnis Gottes als des großen „Ich bin” zu offenbaren, nicht seine wunderbare Fähigkeit als Führer zu zeigen. Nur einmal ist berichtet, daß Mose ein Opfer der Versuchung wurde, seine Nachfolger zu sich anstatt zu Gott emporblicken zu heißen. Dies geschah am Haderwasser, wo er, wie wir lesen, den Felsen schlug, daß er Wasser geben sollte, um ihren Durst zu löschen, und ausrief: „Höret, ihr Ungehorsamen, werden wir euch auch Wasser bringen aus diesem Fels?”
Wenn der Ruf an uns ergeht, uns im Dienste der Bewegung der Christlichen Wissenschaft aufzumachen und zu arbeiten, schwebt uns das Beispiel unserer geliebten Führerin vor, die in ihrem Bestreben, der Welt die ihr widerfahrene Offenbarung zu geben, nie schwankte, und die uns in ihren Schriften die göttliche Eingebung ihrer selbstlosen Bemühungen hinterlassen hat. In „The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany” (S. 165) schrieb sie folgende Worte: „So kann sich jedes Mitglied dieser Kirche erheben über die oft wiederholte Frage: Was bin ich? zu der wissenschaftlichen Antwort: Ich bin fähig, Wahrheit, Gesundheit und Glückseligkeit mitzuteilen, und dies ist der Fels meines Heils und der Grund meines Daseins”.
