Im 4. Kapitel des 2. Buchs von den Königen lesen wir die kurze Geschichte von einer Witwe, die ihre Schulden nicht bezahlen konnte, weshalb sie ihre beiden Söhne dem Schuldherrn als Leibeigene übergeben sollte. Sie hatte aber dadurch, daß sie dem Propheten Elisa erklärte: „Du weißt, daß er, dein Knecht, den Herrn fürchtete”, ihren Glauben an Gott und den Grund, warum sie eine Lösung ihrer schwierigen Aufgabe erwartete, zum Ausdruck gebracht.
Im Glossarium des christlich-wissenschaftlichen Lehrbuchs „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 593) gibt Mary Baker Eddy für das Wort „Prophet” folgende geistige Auslegung: „Ein geistiger Seher; das Verschwinden des materiellen Sinnes vor den bewußten Tatsachen der geistigen Wahrheit”. Elisa fragte Weib, was sie im Hause habe, und sie antwortete: „Nichts ... denn einen Ölkrug”. Der Prophet sah von der Not und vom Ölkrug weg — vom Stoff und vom Zeugnis des körperlichen Sinnes weg und auf die Fülle alles Guten hin — und sagte: „Gehe hin und bitte draußen von allen deinen Nachbarinnen leere Gefäße”; und er bemerkte ausdrücklich, daß sie „derselben nicht wenig” borgen solle. Mit welcher Verwunderung das Weib auf die an jenem Tage an sie gestellten Forderungen gehört haben mußte! Unverzüglich, ohne Begründung, bedingungslos gebot Elisa: „Gehe hinein und schließe die Tür zu hinter dir und deinen Söhnen und gieße in alle Gefäße; und wenn du sie gefüllt hast, so gib sie hin”.
Nachdem sie sich der Gegenwart und Macht Gottes bewußt geworden war und die Tür gegen alle von außen kommenden Sorgen, Befürchtungen und Ansprüche zugeschlossen hatte, sollte sie ausgießen. Ohne Zweifel dachte sie, als sie zu Elisa ging und um Hilfe bat, darüber nach, was sie wohl empfangen werde; und nun wurde sie geheißen, „auszugießen”. Jemand mit geistigem Blick hatte ihr Denken vom Selbst und von persönlichen Angelegenheiten, von Furcht und Mangel zu der stets wirkenden und stets zugänglichen göttlichen Liebe hingelenkt. Es wurde bestimmtes Handeln von ihr verlangt. Das einzige, was sie im Hause hatte, sollte sie „ausgießen”. Nicht ihre Söhne sollten es für sie tun. Diese hatten freilich auch etwas zu tun,— leere Gefäße herbeizuschaffen, soviel sie finden konnten. Und als alle gefüllt waren, „stand das Öl”: der Beweis war erbracht. Dann ging das Weib wieder zu Elisa, um ihm zu berichten, wie sie seine Anweisungen befolgt hatte. Ihr Gehorsam hatte sie für den nächsten Schritt vorbereitet: „Gehe hin, verkaufe das Öl und bezahle deinen Schuldherrn; du aber und deine Söhne nähret euch von dem übrigen”.
Öl war damals kostbar und wurde zu vielem gebraucht. Betrachten wir den Sinn des Wortes in seiner im Glossarium in Wissenschaft und Gesundheit (S. 592) gegebenen geistigen Bedeutung: „Öl. Heiligung; Nächstenliebe; Milde; Gebet; himmlische Inspiration”. Gießen wir Christliche Wissenschafter von heute dieses Öl aus? Keine Not ist so groß, keine Furcht so beharrlich, kein Erfordernis so dringend, daß sich nicht in jedem Hause ein Krug mit Öl finde, das der Ausgießung harrt; und „nicht wenig” leere Gefäße sind vorhanden und harren der Füllung. Liebende Herzen und willige Hände sind vonnöten, damit die Schätze der Wahrheit und der Liebe in die leeren Gefäße gegossen werden können.
Jede kranke oder dürftige Auffassung von Leben im Fleische ist nur ein „leeres” Gefäß, das der Füllung mit „himmlischer Inspiration”, des Gebets der Bekräftigung, der Dankbarkeit und der Lobpreisung harrt. Jeder Schüler der Christlichen Wissenschaft hat in seinem Hause einen Krug kostbarsten Öls, nämlich sein Verständnis Gottes, des Guten, das nur der Ausgießung harrt, um sich überreichlich fähig zu erweisen, alle menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Gott ist die eine unendliche Quelle der Versorgung, und Seine Fürsorge für Seine Kinder versagt nie. Bedenken wir doch, daß ein einziger Gedanke der Wahrheit im geweihten Heiligtum des göttlichen Bewußtseins, dessen Türen so geschlossen sind, daß der weltliche Sinn mit seinen anmaßenden Einflüsterungen nicht eindringen kann, genügt,— wenn er ausgegossen wird! In der alttestamentlichen Geschichte ist der Ölkrug das Sinnbild, mittels dessen Elisa, der Knecht Gottes, durch sein geistiges Verständnis einen wunderbaren Beweis der Fülle Gottes erbrachte.
Heute ist vielleicht mehr als je zuvor Hingebung auf jedem Gebiete aufbauender Tätigkeit vonnöten. Nächstenliebe, Milde und himmlische Inspiration tun not. Irgend eine Begabung oder Fertigkeit, etwas zu tun und es gut zu tun, kann eines Menschen Krug mit Öl sein, das nur der Ausgießung harrt, um die Fülle des Guten zu beweisen. „Was hast du im Hause?” Ist ein Maß kostbaren Öls vorhanden, das vielleicht in drückenden Anfechtungen und Erfahrungen, die einem Gottes Nähe unauslöschlich zum Bewußtsein gebracht haben, geerntet worden ist? Als Elisa das Weib selbst in ihrer größten Not „ausgießen” hieß, wiederholte er eine Grundwahrheit und gab eine Regel für das Beweisen, die wir durch die ganze Heilige Schrift hindurch finden können, und die am ausgeprägtesten im Leben und in den Werken Christi Jesu hervortritt, der zu seinen Jüngern sagte: „Gebt, so wird euch gegeben”.
Menschlicher Fortschritt hängt mehr von der Pflege der Denkkraft der Menschen ab als von irgend einer Regierung in der Welt.—
