„Und des Herrn Wort geschah zu mir und sprach: Du Menschenkind, was habt ihr für ein Sprichwort im Lande Israel und sprecht: Weil sich’s so lange verzieht, so wird nun hinfort nichts aus der Weissagung?” So lesen wir im 12. Kapitel des Buches des Propheten Hesekiel. Wer ist in seinem Ringen mit einer langsamen Heilung nicht schon versucht gewesen, das falsche Sprichwort zu wiederholen? Viele von uns haben Zeiten erlebt, wo sich die Tage des Wartens auf Heilung in der Tat zu verziehen schienen und die höchste Weissagung anscheinend nicht in Erfüllung gehen wollte. Für solch Verzagte hat die große Verheißung im 23. Vers dieses Kapitels vielleicht eine ganz neue Bedeutung: „Darum sprich zu ihnen: So spricht der Herr, Herr: Ich will das Sprichwort aufheben, daß man es nicht mehr führen soll in Israel. Und rede zu ihnen: Die Zeit ist nahe und alles, was geweissagt ist”.
Die Welt im allgemeinen ist nicht geneigt, viel auf [Weissagung oder] Vision zu geben. Das Wort hat heute tatsächlich eine etwas abfällige Bedeutung und schließt etwas Unzweckmäßiges oder vom täglichen Leben sehr weit Entferntes in sich. Sogar die große Glaubensgemeinschaft der christlichen Kirche legt ihm keine Bedeutung bei, und der vernünftige Alltagsmensch versteht darunter einfach Einbildung und Träumerei.
Für den Christlichen Wissenschafter hat das Wort „Vision” jedoch eine ganz neue Bedeutung erlangt. Er hat verstehen gelernt, daß Vision oder geistiges Schauen nichts Unfaßbares, Unzweckmäßiges sondern der Wesenskern und der Wirklichkeitsmittelpunkt ist, worauf seine ganze Beweisführung beruht. Er hat in der Tat gefunden, daß er nur in dem Maße, wie er durch den Augenschein der körperlichen Sinne hindurchund darüber hinaussehen lernt, nur in dem Maße, wie er sich über die Materie und über die sogenannten Wirklichkeiten des Alltagsdaseins erhebt, in der äußerst praktischen Arbeit, sich selber oder jemand anders durch geistige Mittel zu heilen, Fortschritt machen kann.
Dies sollte nicht wundernehmen. Die Welt ist an den Augenschein der Sinne nicht so gebunden, wie sie sich manchmal einbildet; denn in unserer Zeit des Rundfunks, der Flugzeuge und ähnlicher erstaunlicher Erfindungen wird sie gern zugeben, daß diese im menschlichen Leben nur in dem Maße in Erscheinung getreten sind, wie die Seher aller Zeiten mutig genug waren, das Sinnenzeugnis abzuschütteln und die Festungswälle des Unbekannten und scheinbar Unmöglichen zu erklettern. Galilei verwarf den uralten Glauben, daß die Erde flach sei und daß die Sonne sich von Osten nach Westen bewege; Kolumbus träumte von einem neuen, unentdeckten Seewege; Marconi erwog die Ausschaltung des Raumes. Können wir uns vorstellen, wie ganz anders unsere praktische Alltagswelt heute aussehen würde, wenn diese oder andere große Denker auf die Verhöhnungen der sogenannten vernünftigen Philosophen ihrer Zeit geachtet und sich damit zufrieden gegeben hätten, an den Augenschein der fünf körperlichen Sinne gebunden zu sein?
Vision, geistiges Schauen, ist also nach der Auslegung der Christlichen Wissenschaft etwas äußerst Zweckdienliches; ja es ist, wie Mrs. Eddy auf Seite 476 und 477 in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” dargelegt hat, jener Vorgang, auf dem das Heilen Jesu beruhte. Solange wir daher nicht lernen, uns über den Augenschein der körperlichen Sinne zu erheben und wie Jesus „in der Wissenschaft den vollkommenen Menschen” zu sehen, „der ihm da erschien, wo den Sterblichen der sündige, sterbliche Mensch erscheint”, sind wir noch weit davon entfernt, jenes augenblickliche Heilen zu vollbringen, das die Arbeit des Meisters kennzeichnete.
Zuweilen kann es jedoch scheinen, als sei sogar unser erhabenstes geistiges Schauen unwirksam, soweit es sich um körperliche Heilung handelt, als ständen wir vor einer hartnäckigen körperlichen Widerwärtigkeit, die unseren hingebungsvollen Anstrengungen, sie auszutreiben, nicht gewichen ist. In solchen Zeiten müssen wir felsenfest überzeugt sein, daß das geistige Schauen in der Christlichen Wissenschaft unmöglich wirkungslos sein kann.
Sollten wir daher nicht die Jahrhunderte alte schulmäßige Gottesgelehrtheit in Betracht ziehen, die den Glauben großgezogen hat, daß geistiges Schauen und körperliche Gesundheit wenig oder überhaupt nichts miteinander zu tun haben? Den Jahrhunderte alten irrtümlichen Glauben an kerngesunde Sünder und kränkliche Heilige kann kein aufmerksamer Christlicher Wissenschafter ohne nachdrückliches Verneinen hingehen lassen. Auch Arzneilehren halten seit Jahrhunderten daran fest, daß das Heilen des Körpers und die Erneuerung des menschlichen Sinnes getrennte Aufgaben seien, obwohl fortschrittliche und geistiggesinnte Ärzte allmählich zugeben, daß eine geistige Eigenschaft sich heilend auswirken könne.
Und doch bildet gerade die Lehre, daß jede Wirkung eine mentale Ursache habe, den Kernpunkt der großen Entdeckung der Mrs. Eddy. „Die göttliche schreibt Wahrheit”, schreibt sie auf Seite 350 in Wissenschaft und Gesundheit, „muß sowohl an ihren Wirkungen auf den Körper als auch an ihren Wirkungen auf das Gemüt erkannt werden, ehe die Wissenschaft des Seins demonstriert werden kann”, und sie hat diesen Gedanken in allen ihren Schriften immer wieder zum Ausdruck gebracht. Für sie waren geistiges Schauen und seine Wirkung ungetrennt und untrennbar. Es wäre daher für jeden, der es noch nicht getan hat, von Nutzen, ihre Schriften mit Hilfe der Konkordanzen genau durchzusehen und festzustellen, wie oft sie die göttliche Wahrheit und deren Wirkung und Folgen auf den Körper in Zusammenhang gebracht hat. Sie erkannte klar, wie gefährlich es ist, zu glauben, daß Geistigkeit und Gesundheit getrennt seien. Die Wissenschaft allein genügte ihr nicht,—es mußte Wissenschaft und Gesundheit sein; und sie hat deren Einheit im Titel unseres Lehrbuchs für immer festgelegt.
Fassen wir also Mut! Schien unsere Heilung in die Länge gezogen und unser höchstes geistiges Schauen fruchtlos? Haben wir uns der uralten Lüge, daß ein guter Mensch oft krank sei, unbewußt ergeben? Haben wir dem ärztlichen und kirchlichen Glaubenssatz, daß geistige Wahrheit machtlos sei, auf Körperstörungen einzuwirken, unwissentlich zugestimmt?
Glauben wir irgend eine dieser falschen Annahmen, dann ist es höchste Zeit, daß wir uns mit dem „Schwert des Geistes, welches ist das Wort Gottes”, entschlossen dagegen wenden und den Feind vor uns vertreiben. Dann wird das falsche Sprichwort wahrlich nicht mehr unter uns zu hören sein. Geistiges Leben und Denken werden nicht mehr ohne ihre rechtmäßigen Heilerfolge sein; denn in der unserer Zeit zuteil gewordenen Offenbarung der Christlichen Wissenschaft ist die Zeit in der Tat nahe und „alles, was geweissagt ist”.