Der allgemeine Glaube an das, was Tod genannt wird, lenkt das menschliche Denken fragend auf ein Hiernach hin. Wie geht es denen, die nicht mehr bei uns sind? Und immer wieder hört man fragen: Werden wir ihnen begegnen und sie wieder erkennen? Es wäre nur ein grausamer Hohn auf Freundschaft und Zuneigung, wenn die Wesenseinheit die vorübergehenden Erlebnisse dieses flüchtigen Erdenlebens nicht überdauerte.
Die Freude wirklicher Kameradschaft entspringt nicht persönlicher Beziehung, so angenehm diese auch sein mag, sondern dem mentalen Verkehr mit jenen höheren Gedanken und Idealen, die das Himmlische vom Irdischen unterscheiden. Diese durch den Schleier der Materialität hindurchleuchtende göttliche Art ist es, was wir an unseren Freunden lieben und worin das besteht, was wir wirklich voneinander wissen. Es besteht daher kein Grund zu befürchten, daß unsere wahre Wesenseinheit dem Bewußtsein und der Erkenntnis weniger klar wird, wenn die Maske körperlicher Persönlichkeit infolge geistigen Fortschritts durchsichtiger wird.
Die Zeitund Sinnenwelt, die Welt materieller Bäume und Blumen und Berge, des Meeres und des Himmels, der Städte und Menschen ist der Hintergrund für das menschliche Schauspiel des sogenannten körperlichen Lebens, in dem der Tod das Schlußereignis bildet. Aber das Leben hört dort nicht auf; denn da Gott bleibt, kann es in der Lebensdauer eines Menschen keine Unterbrechung geben. Die Wesenseinheit jedes einzelnen wird im Gemüt erhalten und wird von der scheinbaren Zwischenzeit des Todes so wenig berührt wie die Personen in einer Geschichte beim Übergang von einem Kapitel zum andern oder die Schauspieler, wenn der Vorhang zwischen den Akten fällt.
Beim Betrachten der wechselnden Erscheinungsformen des sterblichen Daseins sollte man folgende unbedingte Erklärung auf Seite 70 in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” von Mary Baker Eddy nicht aus den Augen verlieren: „Das göttliche Gemüt erhält alle Identitäten klar erkennbar und ewig, vom Grashalm an bis zum Stern”. In der Annahme über uns selber oder über andere können Änderungen eintreten, je nachdem wir vom materiellen Sinnenzeugnis beeinflußt werden; aber diese Änderungen sind nur das Erzeugnis menschlichen Denkens, sie können die Beziehung des Menschen zu seinem göttlichen Ursprung nicht ändern. Die Möglichkeit einer Änderung in der Wesenseinheit der Widerspiegelungen Gottes zugeben, hieße die Möglichkeit einer Änderung in Gott selber einräumen, eine Behauptung, die logisch undenkbar ist.
Die Körperlichkeit, an die sich die Sterblichen als die Verkörperung des individuellen Bewußtseins klammern, ist gewiß nicht die Quelle des Denkens oder Fühlens. Sie ist unfähig, Liebe, Dankbarkeit oder irgend eine göttliche Eigenschaft zu erkennen oder auszudrücken, kann also nicht über menschliches Glück entscheiden. Die liebevolle Gemeinschaft von Freunden entspringt nicht rein materiellen Umständen und Zuständen, noch steht sie unter deren Einfluß.
Wäre die Fortdauer des individuellen Seins von körperlichen Zuständen abhängig, so wäre die Hoffnung auf ein ewiges Leben grundlos und der Ausdruck „ewiges Leben” eine leere Redensart. Aber Jesus veranschaulichte durch seine Auferstehung die Fortdauer der wahren Idee Mensch und alles dessen, was das Leben schön und harmonisch macht. Die Rückkehr des Lazarus aus dem Grabe in seinen alten Bekanntenkreis bewies die Tatsache, daß die wahre Wesenseinheit im Gemüt besteht und nicht zerstört werden kann.
Die Dinge, die der Materie eigen sind, wie Sünde, Krankheit, Unglück, Armut und Tod, bilden den sterblichen Traum körperlichen Lebens, während geistige Dinge — selbstlose Zuneigung und Freundschaft mit allem, was ehrlich, lieblich und rein ist — mit dem Menschen in Gottes Ebenbild wesenseins sind und weder sterben noch vergehen. Im Denken an der körperlichen Vorstellung von jemand festhalten, bringt keine dauernde Befriedigung, da die Unwirklichkeit und Vergänglichkeit dieser Vorstellung einmal erkannt werden muß. Wir sollten standhafter auf die geistig fortdauernden Dinge in unseren Beziehungen sehen, damit wir schließlich im ewigen Dasein und in der unveränderlichen Lieblichkeit alles dessen, was Gott schafft, frohlocken können.
Was ein Mensch von sich selber weiß, d.h. seine Selbsterkenntnis, ist nicht von seinem Denken getrennt und bleibt immer bei ihm. Das Verständnis, daß das Leben Gott ist, daß wir in dem allgegenwärtigen Gemüt leben, versichert uns der Fortdauer der durch den irrigen Glauben an Sterblichkeit unbegrenzten individuellen geistigen Selbstheit des Menschen.
Paulus nennt den Tod einen Feind, aber einen Feind, der nicht zu fürchten, sondern zu besiegen ist. Seine Erklärung, daß wir in Gott „leben, weben und sind”, läßt für den Tod keinen Raum und keine Gelegenheit, auch keinen Grund dafür, daß Christen ihn für wirklich halten. Den sogenannten körperlichen Sinnen scheinen die Sterblichen zu kommen und zu gehen; aber diese Sinne zeugen nicht für die Wirklichkeit des geistigen Seins. Sie können nur von ihren eigenen Trugvorstellungen zeugen. Die Ausdrücke „hier” und „dort” beziehen sich nur auf die menschliche Erfahrung.
Obgleich geliebte Freunde aus unserem gegenwärtigen Gesichtskreise ausscheiden mögen, können wir wissen, daß sie noch ganz das sind, was sie in Wahrheit immer waren. Die einzige Änderung, die der Fortschritt mit sich bringt, ist, daß man der Unvollkommenheit entwächst. Da unsere Liebe das scheinbare Abscheiden unserer Freunde überdauert, sollte nicht auch ihre Liebe fortbestehen? Nicht in materieller Fälschung, sondern im geistigen Selbst ist die unsichtbare Göttlichkeit des Seins verkörpert. Das geistige Selbst ist das Wesen wahrer Lieblichkeit, wovon der körperliche Begriff nur der flüchtige Schatten ist. Und dieses geistige Bewußtsein, nicht der Körperbau, vermittelt das Denken und Erinnern und ist die ursprüngliche und endgültige Grundlage der Wesenseinheit und des Erkennens.
Das überall wirkende göttliche Gesetz lenkt alle infolge von Änderungen in der Umgebung und im Bekanntenkreise nötigen Einstellungen und zwar ohne jemand seiner Schätze der Freundschaft und Liebe zu berauben. Da jeder Mensch alles, was zur Vollkommenheit seines Seins gehört, unmittelbar von seinem göttlichen Prinzip, Gott, empfängt, kann die endliche Persönlichkeit das zum Glück oder zur Lebensfülle wirklich Notwendige nicht geben. Diese Tatsache vermindert jedoch die Freuden menschlicher Freundschaft nicht, vielmehr erhöht sie sie, indem sie die Abhängigkeit von anderen in den Dingen, die man als Gottes Widerspiegelung in sich selber verwirklichen muß, beseitigt.
Wir lesen in „Miscellaneous Writings” (S. 42): „Wenn wir die Prüfung, die Tod genannt wird, überstanden oder diesen letzten Feind vernichtet haben und uns mit denen, die uns vorangegangen sind, auf derselben Stufe bewußten Daseins befinden, werden wir mit ihnen verkehren und sie erkennen können”. Unsere Führerin konnte dies auf Grund ihres geistigen Blicks und ihres Verständnisses der Wissenschaft des Gemüts, der Wissenschaft des Lebens, das keinen Tod kennt, behaupten.
Es sind nur unsere falschen materiellen Annahmen, die die unsterblichen Wirklichkeiten des Lebens vor uns verbergen. Die Christliche Wissenschaft läßt die Leidtragenden nicht ungetröstet. Sie bringt die heilende Versicherung der allumfassenden Gegenwart der Liebe, in der nicht einmal ein Sperling „vor Gott vergessen” ist, wie der Meister sagte. Es ist unser Vorrecht zu wissen, daß des Vaters Fürsorge alle seine Kinder überall beschützt, und daß alles gut mit ihnen bestellt ist.
