Christus Jesus machte durch seine Worte und Werke klar, daß die Materie nicht Herr über Leben, Intelligenz und Gesundheit ist. Seine Heilkraft zeugte von der unveränderlichen Vollkommenheit Gottes, der Seine Schöpfung durch Sein Harmoniegesetz regiert. Dadurch offenbarte er nicht nur die Beschaffenheit des göttlichen Wesens, sondern er zeigte auch den Menschen durch Unterweisung, Gleichnis und Beispiel, daß sie selber die göttlichen Eigenschaften, die Gott im Menschen, Seinem vollkommenen Ebenbild, ausdrückt, in ihrem Leben bekunden müssen, wenn sie Gottes liebreiches Erbarmen erfahren und Frieden haben wollen.
Der Meister machte dies in seinem Gleichnis vom barmherzigen Samariter klar, so daß der Schriftgelehrte, der ihn fragte: „Wer ist denn mein Nächster?” seine Frage selber beantworten mußte. Nachdem Jesus dieses Beispiel angeführt hatte, fragte er den Schriftgelehrten, wer seiner Ansicht nach „der Nächste sei gewesen dem, der unter die Mörder gefallen war”, worauf der Schriftgelehrte antwortete: „Der die Barmherzigkeit tat”. Bekanntlich veranschaulichte Jesus in diesem Gleichnis mehrere Gesinnungen: er zeigt das selbstsüchtige und gleichgültige Verhalten des Priesters und des Leviten — die beide nichts taten, um dem Notleidenden zu helfen — und die freundlichere Gesinnung des Samariters, der in schneller Erkenntnis der Not eines andern mit dem Verwundeten bereitwillig das Gute teilte, das er besaß. Er „verband ihm seine Wunden und goß drein Öl und Wein”, nahm den Mann in die Herberge und versprach bei seiner Abreise dem Wirt, daß er ihm alle nötigen weiteren Auslagen vergüten würde.
Der Samariter bewies seine Wohltätigkeit durch die Tat. Denken wir jedoch über die in dem Gleichnis veranschaulichten typischen Gesinnungen nach, so müssen wir zugeben, daß gerade aus dieser Begebenheit nicht ersichtlich ist, was den Samariter veranlaßte, von Anfang an freundlich zu sein. Er hatte diese Eigenschaft offenbar gepflegt, bis sie ihm zur Gewohnheit geworden war. Er war zuerst gegen sich selber barmherzig gewesen. Vermutlich hatten diese Eigenschaft und andere ähnliche Eigenschaften in ihm etwaige Annahmeirrtümer verdrängen können. Bunyan sagte: „Wer seinen Freund vergißt, ist undankbar gegen ihn; wer aber seinen Erlöser vergißt, ist gegen sich selber unbarmherzig”. Der Priester und der Levit waren gegen sich selber nicht barmherzig gewesen. Ihr Denken war durch die Wahrheit, der zu dienen sie vorgaben, noch nicht von selbstsüchtiger Gleichgültigkeit befreit; daher waren sie „vorübergegangen”. Sie unterwarfen sich, der Annahme nach, noch der Materie; sie waren noch nicht Nächster geworden, „der die Barmherzigkeit tat”.
Die Lehre, die aus dem Gleichnis zu ziehen ist, ist klar. Jeder muß Gottes Erbarmen so widerspiegeln, daß sein Bewußtsein von der Selbstsucht des Materialismus, dem Glauben an Leben, Intelligenz und Gesundheit in der Materie, frei wird. Jeder so Befreite sieht die Not der verwundeten Welt und kann bei dem großen Werk mithelfen, das menschliche Bewußtsein zur Erneuerung des ihm angeborenen Guten, das ihm geraubt worden zu sein scheint, zu erheben.
Wie verhält es sich nun aber mit dem Mann, der „von Jerusalem hinab gen Jericho” ging und verwundet wurde, als er unter die Mörder fiel? Auch er mußte unbedingt durch eigenes Bemühen Gottes allerhabenes Erbarmen verstehen lernen; denn auch er mußte lernen, was niemand erspart bleibt, Nächster im Sinne des Gleichnisses zu werden wie der, „der die Barmherzigkeit tat”. Geistig betrachtet machte er den ersten Schritt zur Verwirklichung dieser Eigenschaft durch seine Empfänglichkeit für das ihm dargereichte Gute. Er nahm das Öl und den Wein und die angebotene weitere Fürsorge an. Und in der Herberge, wohin ihn der Samariter gebracht hatte, mußte er — allein — diese göttliche Eigenschaft in sein Bewußtsein einströmen lassen, damit es von den Annahmen frei wurde, die durch die Mörder, unter die er gefallen war, und gegen die er sich nicht genügend geschützt hatte, dargestellt sind. Dort mußte auch er lernen, Nächster zu sein — Barmherzigkeit zu erzeigen. Er mußte geheilt werden, um wiederum anderen zu helfen; denn lernte er so, Nächster zu sein, so würde er seinen Nächsten lieben wie sich selber.
Jesus war zu weise, um sein Gleichnis über den Höhepunkt hinaus fortzusetzen. Er überließ es jedem einzelnen, seine Schlüsse selber zu ziehen und die nötige Anwendung davon im eigenen Leben zu machen. Wir nehmen daher an, obwohl es im Gleichnis nicht gesagt ist, daß der Verwundete geheilt — wiederhergestellt — worden ist und gelernt hat, sich und anderen Barmherzigkeit zu erzeigen. Mrs. Eddy schreibt in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 329): „Die Verzeihung der göttlichen Barmherzigkeit ist die Zerstörung des Irrtums. Wenn die Menschen verstehen würden, daß ihre wahre, geistige Quelle lauter Segen ist, dann würden sie danach ringen, ihre Zuflucht im Geistigen zu finden und würden Frieden haben”. Dies stimmt mit des Meisters Lehre überein, daß Leben, Intelligenz und Gesundheit geistig sind und daher nicht von der Materie beherrscht werden.
Die Christliche Wissenschaft zeigt den Menschen wieder die große Wahrheit, die Christus Jesus lehrte und bewies, nämlich, daß das wahre Dasein geistig ist; daß der Mensch Gottes liebreiches Wesen widerspiegelt; daß aus der Unendlichkeit des göttlich Guten die Nichtsheit des Bösen folgt; daß Gott Seine Schöpfung in vollkommener Harmonie erhält. Um jedoch die Wahrheit Seiner göttlichen Vollkommenheit, die uns als unaussprechliches Mitleid erscheint, zu beweisen, muß jeder sein Bewußtsein durch wiederholte Reinigungen von falschen Annahmen, durch Vernichtung des falschen Gefühls des Getrenntseins von Gott eine Stätte göttlicher Holdseligkeit werden lassen. Er muß im eigenen Leben als wahr erkennen und beweisen, was unsere Führerin in „Unity of Good” (S. 3,4) versichert: „Gott ist unsere Hilfe. Er hat Mitleid mit uns. Er hat Erbarmen mit uns und lenkt jede Begebenheit in unserer Laufbahn. Er ist denen nahe, die Ihn anbeten”.
Betrachten wir Jesu Gleichnis im Lichte der Christlichen Wissenschaft, so sehen wir, wie wünschenswert, wie wesentlich es ist, daß wir danach trachten, der ganzen Menschheit Nächster zu sein, indem wir die göttlichen Eigenschaften kennen lernen, in unserem Bewußtsein widerspiegeln und in unserem Handeln ausdrücken. Wir können, was das Böse auch zu tun behaupten mag, wie sehr wir auch versucht sein mögen, uns den mörderischen Gedanken zu unterwerfen, die uns verwunden und uns unsere geistig ererbte Freude und Harmonie rauben wollen, stets finden, daß Gottes Erbarmen bereit ist, zu helfen und wiederherzustellen und eine wirksam erlösende, reinigende Eigenschaft in unserem Bewußtsein zu werden. In „Miscellaneous Writings” (S. 266) erinnert Mrs. Eddy alle, die bestrebt sind, ihrer Führung in Christo zu folgen, daran, daß „ein klardenkender und ehrlicher Christlicher Wissenschafter das Prinzip der Christlichen Wissenschaft beweist und weiß, daß Gerechtigkeit und Barmherzigkeit von der Einheit Gottes unzertrennlich sind”.
Immer und unter allen Umständen zugeben, daß Gottes Gerechtigkeit, Liebe und Erbarmen gegenwärtig sind, wissen, daß diese Eigenschaften im Menschen auf ewig widergespiegelt werden, und sie immer alles Gott Unähnliche aus unserem Herzen und aus unserem Leben ausscheiden lassen, heißt die Seligkeit verwirklichen, die den Barmherzigen verheißen ist, die, wie Jesus sagte, Barmherzigkeit erlangen werden. Auf unserem steinigen Wege von Jerusalem nach Jericho und auf dem besseren Rückwege haben wir jeden Tag Gelegenheit, viel Freundlichkeit von anderen zu erfahren, was die Wunden unserer Widerwärtigkeiten heilen hilft und dazu beiträgt, daß wir durch die erlösende Macht der Liebe der freundliche Nächste anderer auf demselben Wege werden. Täglich, ja ununterbrochen haben wir Gelegenheit zu beweisen, daß Gott Seine Idee beständig veranlaßt, Seine Unendlichkeit des Guten widerzuspiegeln. Und in diesem Beweise finden wir Heilung für unsere Wunden, den Kummer, die Schmerzen und die Niederlage, die das unwirkliche Reich, das von der Schöpfung des Gemüts getrennt und Gott und Seinem vollkommenen Menschen unbekannt ist, zu kennzeichnen scheinen.
