Die Erfahrungen der Menschen sind so sehr miteinander verknüpft, so sehr voneinander abhängig, daß jeder einzelne Gedanke und jede einzelne Tat entweder von segensreichem oder von schädlichem Einfluß ist. Niemand lebt nur sich selber. Durch die Erleuchtung, die man durch das Studium der Christlichen Wissenschaft findet, wird man sich dieser Tatsache bewußt, und man lernt sein Denken reinigen, damit es dem Nächsten zum Segen gereicht.
Nun ist es klar, daß der Schüler vor allen Dingen wissen muß, was sein Nächster eigentlich ist, ehe er hoffen kann, ihn geistig zu segnen. Denkt man dem materiellen Augenschein gemäß, so sieht man seinen Nächsten leicht als ein körperliches Wesen an; aber dieser falsche Sinn vom Menschen kann nie segnen.
Im Glossarium des christlich-wissenschaftlichen Lehrbuchs „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” von Mary Baker Eddy finden wir auf Seite 583 in der Definition des Ausdrucks „Kinder Israel” die Erklärung: „Einige der Ideen Gottes, welche als Menschen erschaut werden, Irrtum austreibend und die Kranken heilend”. Es wird von uns also gefordert, daß wir nach den Ideen Gottes ausschauen, um unsern Nächsten wahrhaft zu sehen. Unser Vorgehen in dieser Hinsicht ist natürlich verschieden je nach der Reinheit unseres Gottesbegriffs, unseres Begriffs von dem Gemüt, aus dem alle rechten Ideen hervorgehen.
Bei der Betrachtung dieses Gegenstandes haben wir in Paulus ein nützliches Beispiel. Solange er zu der Zeit als er noch Saulus hieß, eine falsche Auffassung vom Christentum hatte, verfolgte er seine Mitmenschen; als er aber eine bessere Auffassung von der Liebe erlangte und daran festhielt, sah er sie in einem wahreren Lichte. Er nahm den Namen Paulus an und wurde ein Segen für die ganze Menschheit. Heute noch ist sein Leben für uns ein gewaltiger Ansporn bei unserem Bestreben, neue Lichtblicke von Gott und unserem wahren Selbst zu erlangen. Die aus der Erfahrung des Paulus zu ziehende Lehre würde uns entgehen, wenn wir nicht sähen, daß wir die göttliche Liebe einigermaßen kennen müssen, ehe wir Seine Kinder als Ideen der Liebe sehen können.
Bei diesem Streben haben wir als Ziel die wissenschaftliche Regel, die Jesus in seinen Lehren und durch seine Taten auf ewig festsetzte, und die unsere Führerin später entdeckte und ausführte, nämlich, daß „Gott unser Vater und unsere Mutter, unser Geistlicher und der große Arzt ist; Er ist der einzige wirkliche Verwandte des Menschen auf Erden und im Himmel” (Miscellaneous Writings, S. 151).
Manchen erscheint das Bedürfnis nach menschlicher Gesellschaft viel wichtiger als jede ernste Erwägung dieser Frage. Ihr Verlangen nach menschlichem Umgang kann sie so beeinflussen, daß sie das Annehmen der soeben dargelegten geistigen Tatsachen noch etwas aufschieben, obwohl die Bereitwilligkeit, diese wertvolle Wahrheit in sich aufzunehmen, ewigen Frieden verleiht.
Man sollte selber entdecken, ob man sich seine Freude und seinen Frieden durch bloßes Festhalten an menschlichen Beziehungen bewahren kann. Allzu früh entdeckt man, daß man etwas Wertloses festhält, und man sieht sich wohl oder übel vor die unerbittliche Notwendigkeit gestellt, sich vom Vergänglichen und Zeitlichen dem Unvergänglichen zuzuwenden, das die immer gegenwärtige und befriedigende Wirklichkeit — wahres geistiges Bewußtsein, nicht Fleischlichkeit — ist.
Da diese göttliche Gegenwart dem materiellen Sinn nicht greifbar ist, kann sie der, der im materiell Sichtbaren Befriedigung sucht, nicht verstehen, weil in Wahrheit nur das wirklich ist, was geistig, also für den materiellen Sinn nicht greifbar ist. Kehrt man daher den falschen Glauben um, daß man menschliche Gesellschaft brauche, so erlangt man jenen Bewußtseinszustand, der Gott als das All und die Quelle alles Daseins erkennt. Tatsächlich hat nichts außer Gott und Seinen Ideen wirkliche Gegenwart. Dies reiht die Materie und die Ansprüche der Körperlichkeit in die Klasse der Nichtsheit — der Wesenlosigkeit — ein.
Alles Elend und Leid im menschlichen Leben ist die Folge falschen Vertrauens. Dennoch ist dieses Leid heilsam, wenn es uns zu unbedingtem Verlaß auf den einen und einzigen Gott, unsern Vater-Mutter, zwingt, in dem wir unsere Eltern und Geschwister, unsern Freund und Gefährten finden können. Gott allein befriedigt dauernd und vollständig. In Gott allein findet man die Liebe, die nie enttäuscht,— die Liebe, die beständig, geduldig ist und sogar „siebzigmal siebenmal” vergibt.
Während Jesus denen, die noch fleischliche Verwandtschaftsbande geltend machten, äußerstes Erbarmen und mitleidsvolle Güte erzeigte, beanspruchte er für sich selber die unumwundene Wahrheit, die er seine Jünger lehrte, als er sagte: „Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder? ... Denn wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, der ist mein Bruder, Schwester und Mutter”. Christus Jesus ist unser Wegweiser. Er kannte seine Christus-Eigenschaft, seine unauflösliche Gottessohnschaft, so gut, daß er sein ganzes Denken und Handeln unablässig nur mit diesem Gesetz in Übereinstimmung brachte. Sein Leben bekundete ununterbrochen: „Ich und der Vater sind eins”.
Jesus blieb die Versuchung nicht erspart, zu glauben, daß er die Gesellschaft und das Vertrauen, ja sogar die Unterstützung seiner Jünger brauchte. Selbst nachdem er sich zu großen mentalen Siegen über menschliche Argumente erhoben hatte, schien sich diese Versuchung bis zu der Stunde in Gethsemane zu behaupten, wo seine Jünger nicht mit ihm zu wachen vermochten und er sich daher endgültig von allem falschen Verlaß abwandte. Aus Jesu Erfahrung können wir lernen, daß wir die schmerzliche Erfahrung eines falsch angebrachten Vertrauens und Verlasses nicht durchzumachen brauchen. Wir sollten sie lieber dadurch vermeiden, daß wir uns entschlossen an Gott, unsern einzigen restlos befriedigenden Freund, halten.
Wie Jesus haben auch wir keine andere Bestimmung, als unsere Gottessohnschaft zu verkündigen. Unser Dasein soll diese unauflösliche Einheit bezeugen, soll Zeuge sein für alles, was Gott ist, soll gottähnlich sein. Das kann nur vollbracht werden, wenn man sich von den Ansprüchen des Fleisches abwendet. Die Christliche Wissenschaft zeigt uns den Weg (Wissenschaft und Gesundheit, S. 428) nämlich: „Den Gedanken falscher Stützen und des materiellen Augenscheins zu entkleiden, damit die geistigen Tatsachen des Seins erscheinen können — das ist die große Errungenschaft, durch die wir das Falsche wegfegen und dem Wahren Raum geben werden”.
Diesen Bewußtseinszustand mögen wir zwar nicht auf einmal erlangen; aber allmählich wird uns im Verhältnis zu unserem hingebungsvollen Bestreben, ganz vom Irdischen wegzusehen und mental im geistigen Reich zu weilen, die Erkenntnis dämmern, daß unsere königliche Ermächtigung als Sohn Gottes feststeht und durch keinen geringeren Anspruch getrübt ist. Dieses Bewußtsein ist die sichere Wohnstätte, wo Gesundheit, Friede und Freude durch nichts Menschliches gestört werden.
