Der Gesellschaftsgedanke bereitet dem sterblichen Gemüt viel Unannehmlichkeit: einmal sehnt es sich nach jemand, der abwesend ist, ein andermal sucht es sich ärgerlich von jemand, der anwesend ist, zu befreien. Vergeblich versuchend, sich selber und seinem krankhaften Denken zu entrinnen, sucht es in der Regel lieber Gesellschaft als Einsamkeit. Auf jeden Fall behält der Rat des Paulus seine Gültigkeit: „Ein jeglicher aber prüfe sein eigen Werk; und alsdann wird er an sich selber Ruhm haben und nicht an einem andern”.
In stiller Einsamkeit, gehorsamem Lauschen, kommt der menschliche Gedanke Gott, der göttlichen Wirklichkeit, näher. Der verlorene Sohn war allein, als die Stimme der Wahrheit, die ihn zu dem Wert wahrer Kindschaft erweckte, sein Denken heimwärts, himmelwärts lenkte. Die Wiedergeburt ist eine heilige Erfahrung, die man in der Einsamkeit macht. Der Wert einer durch Gelehrigkeit geheiligten Einsamkeit zeigte sich auch in der Sinnesänderung, die sich in Elia in der Höhle und in Jakob an der Furt des Jabbok vollzog. Maria, die Mutter Jesu, war allein, als Gabriel, der Bote der Liebe, ihrem reinen Bewußtsein erschien und die Geburt des heiligen Kindes voraussagte. Und Mrs. Eddy war allein während jener Heilung, die ihr die Offenbarung der Christlichen Wissenschaft brachte, für sie mehr Licht auf die Heilige Schrift warf und so zur Gründung unserer Sache führte.
Kein menschlicher Vermittler ist zur Gemeinschaft mit dem Christus, der Wahrheit, nötig; denn der „Vorhang ist in Christo weggenommen”. In erhabenen Augenblicken hört man den Christus an die Tür des menschlichen Bewußtseins klopfen und jeden einzelnen auffordern, wie der verlorene Sohn rein, standhaft für seine Sohnschaft einzutreten. Früher oder später erleuchtet geistiges Licht das suchende Herz, das in seinem Trachten nach der ursprünglichen Heiligkeit ausharrt. In der Einsamkeit mit Gott lehren uns heilige Gedanken beten und die Erhörung unseres Gebets vernehmen.
Da Jesus voraussah, daß diejenigen, die er gelehrt und gesegnet hatte, ihn verlassen würden, sagte er zu seinen Jüngern: „Ihr ... werdet ... mich allein lassen. Aber ich bin nicht allein; denn der Vater ist bei mir”. Das ist eine Erklärung wahrer Gemeinschaft, des unauflöslichen Kindschaftsbandes. Das höchste Ziel im Leben ist, sich der Allgegenwart des Geistes bewußt zu werden, den Frieden und die Kraft der Seele unser Bewußtsein mit Licht durchströmen zu lassen. Das können alle durch Anwendung der Lehren der Christlichen Wissenschaft vollbringen. Gott ist sich auf ewig des Menschen bewußt, und der Mensch ist sich auf ewig Gottes, des Guten, bewußt. Zwischen Gott und Seinem Ebenbild gibt es keinen trennenden Vorhang. Da sich die Wahrheit dem Menschen und dem Weltall unaufhörlich mitteilt, hört die Offenbarwerdung der Wahrheit nie auf. Je stärker der Christliche Wissenschafter auf dieser ununterbrochenen Fortdauer von Ursache und Wirkung besteht, desto mehr wird er beweisen, daß angreifende Gedankeneinflüsterungen ihn von seinem mentalen Posten als Zeuge der Wahrheit nicht weglocken können.
Mrs. Eddy schreibt: „Was sagt nun die Christliche Wissenschaft? ‚Wenn ein Mensch recht handelt, sind seine Gedanken recht, tätig und fruchtbar; sein Selbst geht in Liebe auf, und er kann sich selber nicht hören, ohne den Einklang zu verlieren‘” (Botschaft an Die Mutterkirche für das Jahr 1900, S. 3). Der wahre Einklang ist der Widerhall der göttlichen Liebe, der den Mißklang Irrtum, Haß, Eifersucht und Furcht zum Schweigen bringt. Das Ziel jeder Stunde, ob man sie einsam oder in Gesellschaft zubringt, sollte geistiges Horchen auf das Gleichmaß und die Harmonie des wirklichen Seins sein. Dann ist die klagende, quälende Auffassung vom Selbst lautlos und wird nicht gehört. Der Christliche Wissenschafter muß die Worte des Meisters beweisen lernen: „Der Vater läßt mich nicht allein; denn ich tue allezeit, was ihm gefällt”.
Unsere Führerin erklärt: „‚Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?‘ Wenn Er bei uns ist, ist die Straße ein Heiligtum und die Wüste ein Ruheplatz, der von lebendigen Zeugen der Tatsache, daß ‚Gott Liebe ist‘, bevölkert ist” (Miscellaneous Writings, S. 150). Da das Gemüt und seine Ideen eins sind, ist der Zeuge der Wahrheit nie allein. Die Straße der Menschen ist geheiligt, sogar verherrlicht, wenn die Widerspiegelung der Liebe dem müden Wanderer das geistige Erwachen bringt, das über den verlorenen Sohn bei den Trebern kam. Selbst wenn dem Leben durch eine unheilvolle Erfahrung geradezu der Kern genommen zu sein scheint, kann die Wüste dennoch in Schönheit erblühen. Eine schwierige Umgebung oder Fehler in der Vergangenheit sind, wenn sie bereut werden, kein Hindernis zu geistigem Erwachen. In dem Maße, wie man das göttliche Prinzip in jedem bisher steinigen, selbstsüchtigen, stolzen, nicht erneuerten Versteck des menschlichen Herzens willkommen heißt, beginnt es darin zu dämmern,— zu dämmern von Hoffnung und Reinheit, von geistiger Kraft und Liebe. So berühren wir in geistigem Licht den Saum göttlicher Gemeinschaft. Unsere Führerin schreibt: „Der Christliche Wissenschafter ist allein mit seinem eigenen Sein und mit der Wirklichkeit aller Dinge” (Botschaft an Die Mutterkirche für das Jahr 1901, S. 20). Durch dieses Alleinsein erntet der Christliche Wissenschafter die Frucht jener stillen Stunden, wo Gott sich denen, die reinen Herzens sind, offenbart.
