Ein kleines Fischerboot schien einst vorübergehend in Gefahr, in den wütenden Wogen eines sturmgepeitschten Sees zu zerschellen. Es war schon vor Jahrhunderten, und die Männer in dem kleinen Boot waren die Jünger Jesu des Christus,— Männer, die später sein Evangelium in die weite Welt hinaustragen sollten; aber damals waren sie dem Mesmerismus des Augenblicks so erlegen, daß sie aus Furcht laut schrieen. Er war bei ihnen; aber er „schlief auf einem Kissen”. Wie konnte er so unbekümmert sein, wo doch ihr Leben gefährdet war! Vielleicht war es fast mit Unwillen, daß sie ihn weckten. Aber wie rasch änderte sich dann das Bild! „Schweig und verstumme!” sagte er,— und kleine Wellen plätscherten wieder leise an die Seiten des Schiffs. Die tobenden Elemente des sterblichen Gemüts hatten ihren Meister gefunden, „und es ward eine große Stille”. Dann wandte er sich an sie und fragte sie: „Wie, daß ihr keinen Glauben habt?”
Wo ist heute unser Glaube, die wir uns doch als Nachfolger desselben großen Meisters bekennen? Glauben wir an den Geist oder an die Materie? Stehen wir in dem Sturm der allgemeinen Uuruhe, die die materielle Welt durchzumachen scheint, wie die Jünger vor alters von Furcht überwältigt hilflos da? Oder tragen wir, wie sie es hätten tun sollen, unsern Teil dazu bei, den Irrtum zurechtzuweisen — mit andern Worten, ihn zu leugnen, jeder in seinem eigenen Bewußtsein? Der menschliche Jesus ist heute nicht hier; aber der Christus ist immer gegenwärtig. Dieselbe geistige Kraft, von der Jesus vor alters Gebrauch machte, können wir uns jetzt, heute, in diesem Augenblick, immer, in allen Lagen, unter allen Umständen zunutze machen — jene Kraft, die von dem immer verfügbaren, immer anwendbaren, immer wirksamen, immer gegenwärtigen Gesetz Gottes erhalten wird.
Der echte Christliche Wissenschafter weiß, daß „die Annahme von der Überlegenheit geistiger Macht über materiellen Widerstand göttliche Autorität hat” (Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift von Mary Baker Eddy, S. 134). Er beweist sich selber, daß er ungeachtet der Schwierigkeiten, die eine Lage anscheinend bieten mag, und der Menge Menschen, die falsch darüber denken mögen, trotzdem im Frieden sein kann; denn er lebt in einem Bewußtseinsreich, in das Sturm und Kampf nicht eindringen können. Nichts im menschlichen Erleben, so überwältigend es im Augenblick auch scheinen mag, kann je die ewige Tatsache ändern, daß der Mensch besteht, weil Gott besteht, und daß er nur das weiß, was Gott weiß. Diese unauflösliche Einheit kann durch die mannigfaltigen Erscheinungsformen des sterblichen Glaubens, die sogenannten „vorübergehenden Ereignisse”, nie zerstört werden. Dort, wo Furcht, Besorgnis, Verlust, Sünde, Krankheit, Zweifel, Ungewißheit, Müdigkeit, Kummer und Verzagtheit ihn nicht erreichen können, erhält der Vater den Sohn in seiner wahren geistigen Wesensübereinstimmung, sündlos, rein, rechtschaffen, frei, freudig, vollkommen und vollständig, so daß ihm nichts mangelt.
Wenden wir uns also entschlossen von den mißtönenden Geräuschen der Erde ab, damit wir das sanfte Flattern der Engelsschwingen vernehmen! In Gottes Weltall hat sich nie etwas ereignet, kann sich nie etwas ereignen, was dem Guten unähnlich ist. Die härteste Erfahrung, die ein Mensch je machen kann, der größte Verlust, der ihm je zustoßen kann, die tiefste Ungerechtigkeit, die ihm scheinbar widerfahren sein mag, haben nie etwas vernichtet, was von Anfang an wahr war. Das einzige, was vernichtet werden kann, ist unsere Annahme, daß etwas Materielles uns glücklich oder elend machen könne; und wenn wir unsern Verlaß auf die Materie verlieren, ist es geistig immer ein Gewinn, mögen wir unter dem Vorgang auch noch so sehr zu leiden scheinen. Wunderbare Entfaltungen, wunderbare Gelegenheiten zu geistigem Wachstum, wunderbare Lichtblicke himmlischer Wirklichkeit kommen oft, wenn man sich in etwas, was einem manchmal wie eine plötzlich umgestellte fremde neue Welt erscheint, innig an Gott hält. Aber unser Fuß braucht nie zu straucheln, da die Liebe stets gegenwärtig ist und uns durchhilft.
In einem in einer christlich-wissenschaftlichen Kirche gegebenen Zeugnis sagte einst ein Redner: „Während des Erbringens meines Beweises pflegte ich zu beten: ‚Vater, hilf mir nicht nur ihn zu erbringen, sondern auch froh dabei zu bleiben‘”. Es ist nicht immer leicht, „froh zu bleiben”, wenn es einem schwer ums Herz ist; aber gerade jene menschliche Wesensart, die wie die Maiblume mit ihrem weit sich verbreitenden Duft im Schatten froh heranwachsen kann, tut der Welt sehr not.
Der Mensch sollte Herr der Umstände, nicht ihr Opfer sein. Der wirkliche Mensch ist nicht einmal glücklich und ein andermal elend; er dreht sich nicht hilflos wie eine Wetterfahne bei jedem neuen Luftzug, sondern ist ruhig, gelassen, unerschüttert, gesetzt und zufrieden. Er hatte nie eine Sorge. Er hatte nie einen Verlust. Er wurde nie enttäuscht. Er war nie gehemmt. Da unsere wahre Wesensart die Verkörperung rechter Ideen ist, ist sie vollständig unabhängig von der Materie, also keineswegs irgendwelchen materiellen Begrenzungen oder sogenannten Gesetzen des Mißklangs unterworfen. In diesem wirklichen Menschen, dem einzigen Menschen, den es gibt, kann sich keine Unvollkommenheit, keine Furcht, Verwirrung, Ermüdung, kein Schmerz, keine Mißbildung, keine Regelwidrigkeit, keine Sinnlichkeit, keine Ansteckung und keine gefährliche Vererbung ausprägen. Im wahren Bewußtsein gibt es kein falsches Verlangen, keinen unwürdigen Beweggrund, kein ungestilltes Sehnen, keine unheilbare Krankheit, keine unbezähmbare Heftigkeit, keine unüberwindbare üble Gewohnheit, keine unvergessene Kränkung, keinen unersetzlichen Verlust, keine unbelohnte Anstrengung, keinen unwiderstehlichen Trieb zu Lust oder Leidenschaft, keine Gelegenheit, Gott zu entehren. Im geläuterten Bewußtsein hat störrischer Eigenwille keine bleibende Stätte; Selbstgerechtigkeit und Selbstverdammung stoßen auf eine verschlossene Tür; Eigenliebe und Selbstrechtfertigung verschwinden wie finstere Traumschatten. Zweifel und Furcht vergehen wie schnell sich zerteilender Nebel, und die himmlischen Höhen geistiger Wirklichkeit erglühen im Morgenschein göttlichen Strahlenglanzes.
Aber das alles scheint man so leicht zu vergessen, solange der Wind noch die Segel zerreißt,— man scheint so leicht zu vergessen, daß der Christus hier ist! Wenn aber das Erlebnis vorüber ist und man halb in Verwunderung auf das Ganze zurückblickt, sieht man durch diese geläuterte Gesinnung vieles, was einem vorher nicht klar war. Wir finden, daß wir jene große Gabe haben, um die Salomo betete: „ein verständiges Herz”, das wir gerade in jenem Sturm erlangt haben, der so viel falschen Anschein und so viele Mißverständnisse und irrige Eindrücke weggefegt hat. Wir finden, daß wir geduldiger, mitfühlender, versöhnlicher und duldsamer gegen die Fehler anderer geworden sind, weil wir selber so viele gemacht haben, solange der Sturm um uns tobte.
Es gibt heute vielleicht wenig Menschen in der Welt, die in jüngster Zeit nicht irgendwie materiellen Verlust zu beklagen hatten. Aber die Zeit allgemeinen Wiederaufschwungs ist gekommen, und alles sieht immerhin schon anders und besser aus. Unser Bruder sieht anders — besser aus. Unser Ausblick auf das Leben hat sich geändert; denn wir haben die Wahrheit der Erklärung unserer Führerin, daß „Verlust Gewinn ist” (Gedichte, S. 4) einigermaßen bewiesen. Das ist nicht das Ende, wie es unserem furchtsamen, verzagten Sinn einst schien; es ist erst der Anfang von nachfolgenden besseren Dingen. Wir lesen in Wissenschaft und Gesundheit (S. 288): „Die Blitze und Donnerkeile des Irrtums mögen prasseln und lodern, bis die Wolken sich lichten, und das Getöse in der Ferne erstirbt. Dann erquicken die Regentropfen der Göttlichkeit die Erde”.
Allen Bibellesern ist die Geschichte von den drei hebräischen Gefangenen, die aus Nebukadnezars feurigem Ofen so unversehrt hervorgingen, daß nicht einmal ihren Kleidern ein Brandgeruch anhaftete, wohl bekannt. Haben wir, die wir denselben Gott anbeten, heute nicht dasselbe Recht, daß wir eine Anfechtung, so schwer sie auch sei, durchmachen, ohne daß wir äußerlich oder unsichtbar die Spuren jener Erfahrung auf unbestimmte Zeit mit uns herumzutragen haben? Gab es für uns einst „einen Windwirbel auf dem See”? Und waren wir anscheinend darin? Wir wollen die Spuren davon nicht an uns tragen, wenn wir unseres Weges gehen! Weigern wir uns also, verwitterte Christliche Wissenschafter zu sein! Es ist nicht Gottes Wille oder Weg. Wir sollten geläutert und veredelt daraus hervorgehen, und in unserem Blick sollte etwas leuchten, was vorher nicht darin war. Der Sturm ist nun vorüber. Die Sterne scheinen, und es weht ein frischer, reiner Abendwind. Lasset uns dankbaren Herzens für die neuen und immer zahlreicheren Gelegenheiten, zu dienen und zu geben, zu segnen und mitzuteilen, zu helfen und zu heilen, nur an jenes ruhige „Schweig und verstumme!” der immerwährenden Gegenwart der Liebe denken!
Wisset ihr, daß das in der Bibel am häufigsten vorkommende Gebot heißt: Fürchtet euch nicht!? Unzähligemal schallt uns aus dem Wort Gottes zu: Du sollst dich nicht fürchten! Denn Mut ist an der Wurzel des Lebens, und er ist der Boden, in dem jede Tugend gedeiht.—
