Christus Jesus bezeichnete als zweitgrößtes Gebot: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst”. Wenn wir dieses Gebot zu halten trachten, sollten wir die Art der Liebe, die wir uns selber angedeihen lassen, sorgfältig prüfen, ehe wir versuchen, das Gebot mit Rücksicht auf unsern Nächsten zu befolgen. Es würde diesem keineswegs nützen, wenn wir ihn mit derselben Art Liebe bedächten, mit der sich die meisten von uns so gern geradezu überschütten.
Die Worte „liebe dich selber” werden schon so lang falsch verstanden, daß sich selber lieben als eine mentale Gewohnheit angesehen wird, die eher vermieden als gepflegt werden sollte. Der Irrtum liegt in einer falschen Vorstellung vom Selbst, das die Heilige Schrift uns lieben heißt. Wenn wir uns als eine in einem materiellen Körper enthaltene Anhäufung menschlicher Merkmale ansehen, finden wir, daß das materielle Vererbungsgesetz oder eine ähnliche menschengemachte Verfügung das Ergebnis bestimmt und es angenehm oder abstoßend macht. Diese Vorstellung zeigt, wie sehr uns das Verständnis des wirklichen Selbst des Menschen noch fehlt. Ohne dieses Verständnis verlassen wir uns auf die menschliche Persönlichkeit. Wenn unsere Persönlichkeit angenehm, unsere äußere Erscheinung ansprechend und unsere Talente in den Augen der Welt wertvoll scheinen, suchen Eigendünkel, Stolz und Eitelkeit sich unter der Maske Eigenliebe zu verbergen. Wenn uns dagegen das Gute in unserer menschlichen Aufmachung gering erscheint und wir sehen, daß die Welt uns unterschätzt, entwickeln wir allzugern einen sogenannten „Minderwertigkeitskomplex”. Furcht vor dem Urteil eines andern läßt uns oft uns selber geringschätzen. Dieser falsche Sinn von Demut sucht den Tadel eines andern dadurch zu entkräften, daß der Getadelte selber den Fehler zuerst zugibt. Dann gleicht unsere Eigenliebe der Verteidigungsweise einer Tigerin, die ihre hilflosen Jungen beschützt. Angesichts dieser nur allzu häufigen Fälschungen ist es klar, warum man bestrebt ist, sogar den Schein, daß man sich selber liebe, zu meiden, anstatt danach zu trachten, das Gebot der Bibel zu erfüllen und so seinem Nächsten und sich selber zu nützen.
Die Christliche Wissenschaft zeigt, was unser wirkliches Selbst ist: die immerwährende Widerspiegelung Gottes, die ewig alles Gute ausdrückt. Da der Mensch vollständig gut ist, ist er auch vollständig liebenswürdig. Es ist durchaus folgewidrig, anzunehmen, daß Gott, der alle Macht besitzt, den Menschen nicht ganz vollkommen und daher nicht völlig liebenswürdig erschaffen wollte.
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