Gretchen war ein kleines Mädchen, das in einem christlich-wissenschaftlichen Heim aufwuchs und freudig in die christlich-wissenschaftliche Sonntagsschule ging. Da ihr Gesichtchen gewöhnlich vor Freude strahlte, war ihre Mutter sehr überrascht, als ihr Kind eines Morgens mit Tränen in den Augen vom Spielen hereinkam und weinend erzählte, daß das kleine Nachbarmädchen nicht mit ihr spielen wolle.
Zuerst sagte die Mutter nichts zu Gretchen, sondern erklärte im stillen, daß Gott, die Liebe, allen Raum ausfüllt, und daß es in der göttlichen Liebe keine Kränkungen oder Mißverständnisse gibt.
Als Gretchen nicht mehr weinte, fragte ihre Mutter sie, was sie nun machen wolle; und Gretchen, die noch immer auf das sterbliche Gemüt hörte, erklärte, sie wolle nichts mehr mit der kleinen Nachbarin zu tun haben.
Draußen schien hell die Sonne, und das Wohnzimmer, in dem Gretchen und ihre Mutter standen, war von Licht erfüllt.
„Wir wollen alle Blenden herunterziehen”, sagte die Mutter, und Gretchen gehorchte, obgleich es ihr sehr sonderbar vorkam.
Als alle Blenden heruntergezogen waren und es dunkel im Zimmer war, hieß die Mutter Gretchen zur Haustür gehen und hinaussehen. „Sieh mal nach, was die Sonne tut”, sagte sie.
„Sie scheint immer noch, Mutter”, sagte Gretchen und lachte dann. „O, ich weiß, was du meinst, Mutter. Die Sonne scheint die ganze Zeit, gleichviel, was geschieht. Selbst wenn es regnet, scheint die Sonne über den Wolken. Und unsere Lehrerin erzählte uns, daß die Sonne bei Nacht weiterscheint, daß aber unsere Erde sich dreht, so daß eine Seite im Finstern ist”.
„Ja”, sagte die Mutter, „ist es nicht herrlich, daß die Sonne immer gleichmäßig auf alles scheint! Sie kann gar nicht anders als scheinen! denn sie ist nur Licht und kennt keine Finsternis. Und Jesus sagte: ,Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen, auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel; denn er läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte‘”.
Dann schlug sie Wissenschaft und Gesundheit (S. 595) auf und zeigte Gretchen die Stelle, wo Mrs. Eddy sagt, die Sonne ist „das Symbol der Seele, die den Menschen regiert — das Symbol von Wahrheit, Leben und Liebe”.
„‚Gott ist Liebe‘, das hast du gleich am Anfang in der Sonntagsschule gelernt”, sagte die Mutter. „Als Gottes Kind kannst du also gar nicht anders als alle lieben, weil Gott all-liebend ist. Die Sonne kann nicht anders als scheinen; denn sie kennt keine Finsternis, und die Liebe kann nicht anders als lieben; denn sie kennt keinen Haß”.
„Dann”, sagte Gretchen froh, „werde ich das kleine Nachbarmädchen einfach weiterlieben gleichviel, was geschieht!”
Lachend lief sie hinaus ins Freie. Und bald hörte die Mutter, wie Gretchen und das kleine Nachbarmädchen im Hof miteinander spielten.
Als Gretchen später zum Abendessen hereinkam, sagte sie, daß sie und ihre Freundin so schön miteinander gespielt hätten.
Das Glück der Liebe äußert sich im Handeln; seine Probe besteht in dem, was man willens ist, für andere zu tun.—